Handelsblatt, 03.01.2015 http://www.handelsblatt.com/politik/international/erdogans-neue-tuerkei-der-machtgierige-seite-all/11073030-all.html Erdogans „Neue Türkei“ Der Machtgierige Mit einer Verfassungsänderung will Erdogan aus der „Neuen Türkei“ eine Präsidialrepublik machen – mit sich selbst als Staatschef und mehr Macht als jemals zuvor. Die Wahlen werden zeigen, was das Volk davon hält. von Gerd Höhler AthenNach der Wahl ist vor der Wahl: Erst im August zum Staatspräsidenten gekürt, muss sich Recep Tayyip Erdogan voraussichtlich im kommenden Juni erneut dem Urteil der Wähler stellen. Zwar nicht persönlich. Aber bei der bevorstehenden Parlamentswahl geht es auch um ihn: Wie schneidet die von Erdogan bisher geführte islamische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) unter ihrem neuen Vorsitzenden Ahmet Davutoglu ab? Davon wird auch abhängen, wie viel Macht Erdogan als Staatschef künftig bekommt. Für Erdogan geht ein gutes Jahr zu Ende. Dass es schlecht begonnen hatte, ist fast in Vergessenheit geraten. Die Mitte Dezember 2013 aufgekommenen Korruptionsvorwürfe, die bis in seine Familie hineinreichten, waren die größte Herausforderung, seit er 2003 die Macht in Ankara übernommen hatte. Doch mit umfangreichen Säuberungen im Polizei- und Justizapparat gelang es, die gefährliche Zeitbombe zu entschärfen. Bereits bei den Kommunalwahlen im März konnte Erdogans AKP wieder einen klaren Sieg einfahren. Und im August wählten die Türken Erdogan zum Staatspräsidenten. Damit steht der 60-Jährige jetzt im Zenit seiner politischen Karriere – ein erstaunlicher Lebensweg für einen, der als Sohn eines Seemanns im schäbigen Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa aufwuchs, wo er sich sein Taschengeld mit dem Straßenverkauf von Limonade und Sesamkringeln verdienen musste. Umso mehr scheint Erdogan jetzt die Symbole der Macht zu genießen: In Ankara ließ er sich einen Prunkbau erreichten, den Ak Saray, den Weißen Palast. Kostenpunkt: umgerechnet mindestens 455 Millionen Euro. Oppositionspolitiker behaupten, für den Bau seien Gelder aus der staatlichen Rentenkasse zweckentfremdet worden. Das würde Erdogans Darstellung, der Ak Saray sei „der Palast des Volkes“ eine pikante Bedeutung geben. Nicht mal die mit dem Bau beauftragte Rönesans Holding will sagen, wie viele Räume der riesige Gebäudekomplex hat – Schätzungen schwanken zwischen 1000 und 2000. Doch das scheint Erdogan noch nicht zu reichen. Nach türkischen Medienberichten wird auf dem Gelände des Protz-Palastes jetzt auch noch eine Privatresidenz für das Staatsoberhaupt errichtet. Dort sollen Erdogan, seiner Frau Emine und dem Gesinde 250 Räume zur Verfügung stehen. „Ich habe Erdogan nie gewählt. Aber geschadet hat er unserem Land auf keinen Fall. In dieser Gezi-Park-Sache unterstütze ich ihn zu 100 Prozent. Die Demonstranten verhalten sich daneben. Ich finde, Erdogan hat sich in dieser Angelegenheit richtig verhalten. Vielleicht wähle ich ihn das nächste Mal." Der neue Präsident braucht viel Platz, denn er hat große Ambitionen. Der Ak Saray soll zur Machtzentrale ausgebaut werden – eine Art türkischer Kreml. Erdogan selbst stellte jetzt klar: „Dieser Palast beantwortet die Frage, von wo aus die Türkei regiert wird.“ Premierminister Ahmet Davutoglu, der Erdogan zuvor als Berater und dann als Außenminister diente, bevor er seine Nachfolge als Ministerpräsident antrat, spielt nur eine Statistenrolle. Die Entscheidungen fallen künftig im Ak Saray, wo Erdogan eine Art Schattenregierung aufbaut: Ein Team handverlesener Vertrauter des Präsidenten soll die einzelnen Fachminister beaufsichtigen und steuern. Gleich Anfang Januar will Erdogan die erste Kabinettssitzung unter seinem Vorsitz veranstalten. Die türkische Verfassung gibt dem Präsidenten zwar das Recht, die Ministerrunde einzuberufen. Ansonsten aber sind die Kompetenzen des Staatsoberhaupts eher repräsentativer Natur. Erdogan will das ändern. Mit einer Verfassungsänderung möchte er aus der „Neuen Türkei“, von der er gern spricht, eine Präsidialrepublik machen – mit sich selbst als Staatschef, der eine Machtfülle genießen soll wie sonst nur südamerikanische Präsidenten. Um die Verfassung zu ändern, braucht die AKP allerdings im nächsten Parlament mindestens eine Dreifünftelmehrheit von 330 Sitzen. Gegenwärtig hat sie nur 312 Mandate. Bei der bevorstehenden Parlamentswahl stimmen die Türken also auch darüber ab, wie viel Macht Erdogan bekommen soll. Der Urnengang wird damit zur einer historischen Weichenstellung für die Türkei. Bisher haben Erdogan und die AKP gute Karten – vor allem deshalb, weil die Oppositionsparteien ein klägliches Bild abgeben. In ihren zwölf Regierungsjahren hat die AKP ein dichtes Netzwerk geknüpft. Sie belohnt ihre Anhänger. Regierungsnahe Unternehmen bekommen öffentliche Aufträge, bedürftige Familien werden im Winter mit kostenloser Kohle geködert. Die Türkei scheint auf dem Weg zurück in die von einem starken Mann autoritär geführte Ein-Parteien-Republik. So war es schon unter dem Staatsgründer Atatürk. Doch ob die AKP bei der bevorstehenden Parlamentswahl ihre Rolle als dominierende politische Kraft ausbauen kann, hängt nicht zuletzt von der Wirtschaftsentwicklung ab. Die Partei verdankt ihre Wahlerfolge vor allem dem türkischen Wirtschaftswunder. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in der Ära Erdogan verdreifacht. Er gilt als Vater des türkischen Wirtschaftswunders. Aber jetzt stottert die Konjunktur. Das Pro-Kopf-Einkommen stagniert. Der Zufluss ausländischen Kapitals, auf den das Land zur Deckung seines hohen Leistungsbilanzdefizits angewiesen ist, lässt nach. Die Inflation steigt, die Arbeitslosenquote erreichte jetzt den höchsten Stand seit vier Jahren – keine ungefährliche Entwicklung für Erdogan, der seinen Landsleuten versprochen hat, die Türkei bis 2023, wenn sich die Gründung der Republik zum 100. Mal jährt, in die Oberliga der zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt zu führen. Dieses kühne Ziel wirkt zunehmend wie eine Fata Morgana, auch angesichts der Kriege in den Nachbarländern Irak und Syrien, die türkischen Exporteuren und Investoren Milliardeneinbußen bescheren. Zugleich werden ausländische Anleger durch die Krisen in der Nachbarschaft verunsichert. Auch die Zweifel an der Bündniswilligkeit des Nato-Landes wachsen. Ankara verweigert eine aktive Beteiligung an der von den USA geführten Koalition gegen die IS-Terrormiliz und untersagt der US Air Force die Nutzung ihres südtürkischen Luftwaffenstützpunktes Incirlik für Angriffe auf die Dschihadisten. Der Verdacht, die Türkei habe in der Vergangenheit den IS unterstützt, steht weiter im Raum. Erdogan sorgt mit polarisierenden Reden für zusätzliche Irritationen: Mal vergleicht er Israels Politik gegenüber den Palästinensern mit der „Barbarei Hitlers“, denn erklärt er, der Weste weide sich an den Konflikten im Nahen Osten und sehne den Tod aller Muslime herbei. Solche Tiraden wecken nicht gerade die Hoffnung, dass sich bei den festgefahrenen EU-Beitrittsverhandlungen im nächsten Jahr etwas bewegen wird. Erdogans Türkei marschiert in eine andere Richtung. Neue Sicherheitsgesetze erlauben es der Polizei, bei Demonstrationen schneller scharf zu schießen – eine Reaktion auf die Massenproteste vom Sommer 2013. Bürger können ohne Gerichtsbeschluss abgehört werden. Die Rechte Beschuldigter und ihrer Anwälte in Strafverfahren werden weiter eingeschränkt. Auch die Islamisierung des Landes geht voran: Nach den Alkoholverboten und der Geschlechtertrennung in Studentenheimen lässt Erdogan jetzt in allen staatlichen Universitäten Moscheen errichten. Die Gleichberechtigung der Geschlechter sei „widernatürlich“, verkündete der fromme Präsident kürzlich, der Islam definiere die Rolle der Frau – als Mutter. Zum Primat der Religion in Erdogans „Neuer Türkei“ passt auch, dass ausländische Ehepartner türkischer Staatsbürger künftig überprüft werden sollen – auf ihre „allgemeine Moral“.
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