zeit.de, 04.01.2015

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PKK

"Erdoğan ist der wahre Kalif"

Die Kurden kämpfen mit Erfolg gegen die Terrormilizen des IS – das macht sie für den Westen unentbehrlich. Ein Gespräch mit dem Chef der PKK Interview: Onur Burçak Belli und Özlem Topçu

Der Weg zum amtierenden Chef der kurdischen Arbeiterpartei PKK, Cemil Bayık, 59, führt von Erbil aus, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, mehrere Stunden in Richtung Norden, in das Kandilgebirge. Hier beginnt PKK-Land. Das Konterfei des PKK-Gründers Abdullah Öcalan ist an Checkpoints zu sehen. Da Öcalan eine lebenslange Haftstrafe in der Türkei absitzt, steht Bayık an der Spitze der Partei. Deckname: Cuma. An dieser Stelle müssen wir die Mobiltelefone ausschalten und abgeben.

Auf etwa 1500 Metern steht das "Gästehaus" der PKK. Es wird von Kämpferinnen betreut. Sie begrüßen die Gäste mit Küsschen rechts und links. Sie nehmen Eltern in Empfang, die kommen, um ihre kämpfenden Kinder zu besuchen, Politiker oder Journalisten. Nach etwa zwei Stunden holt uns ein PKK-Kämpfer ab. Er bringt uns in ein Dorf. Wir sollen im Haus eines Dorfbewohners warten. Unsere Namen würden noch einmal über Funk durchgegeben.

Nach etwa einer Stunde öffnet sich die Tür. Cemil Bayık betritt den Raum, begleitet von vier schwer bewaffneten Beschützern.

DIE ZEIT: Die Kurden waren immer die Verlierer im Nahen Osten, die PKK war das Enfant terrible. Seit der Verteidigung der Stadt Kobani vor dem sogenannten Islamischen Staat (IS) hat sich Ihr Image radikal verändert. Wie fühlt sich das an, plötzlich die "Guten" zu sein?

Cemil Bayık: Eigentlich hat man uns verkannt. Es kann sein, dass wir da Fehler gemacht haben. Aber wir waren damit nicht allein. Europa und Amerika haben uns nur durch die Augen des türkischen Staates und seines Geheimdienstes kennengelernt. Unser Engagement in Kobani hat nun vielen die Augen geöffnet und ermöglicht, uns objektiver zu betrachten. Man wird sehen, dass die Informationen, die die Türkei und andere über uns weitergegeben haben, nicht mit der Realität übereinstimmen.

ZEIT: Welche Fehler haben Sie denn gemacht?

Bayık: Vor allem Anfang bis Mitte der neunziger Jahre gab es Aktionen, mit denen wir über das Ziel hinausgeschossen sind; Aktionen, die die europäische Öffentlichkeit an ihre Grenzen gebracht haben.

ZEIT: In Deutschland erinnert man sich noch an Selbstverbrennungen und Autobahnblockaden.

Bayık: Nun, in dieser Zeit gab es in der Türkei einen aggressiven Krieg im Südosten des Landes. Die Türkei hat die Kurden mit ihrer ganzen Kraft angegriffen und dabei ihre eigene Verfassung mit Füßen getreten. In dieser Zeit gab Deutschland ostdeutsche Waffen an die Türkei weiter – und die wurden im Krieg gegen die Kurden eingesetzt.

ZEIT: Viele Menschen haben Angst vor der PKK, genau wegen dieser und anderer Erinnerungen. Gleichzeitig gibt es in Deutschland und anderen europäischen Ländern eine Debatte darüber, ob das PKK-Verbot aufgehoben werden sollte. Verfolgen Sie das?
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT No 52 vom 17.12.2014.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT No 52 vom 17.12.2014. | Hier können Sie die aktuelle Ausgabe lesen.

Bayık: Darüber freuen wir uns. Das Verbot ist ein Schandfleck, der entfernt werden muss. Es nützt weder Deutschland noch dem deutschen Volk, noch den europäischen Staaten und ihren Völkern. Natürlich verfolgen wir, dass gewisse Kreise in Deutschland über die Aufhebung des Verbots sprechen. Wir haben diese Leute hierher eingeladen. Wir können uns treffen, uns kennenlernen und gemeinsam die Vergangenheit bewerten. Wir können offen über unsere Fehler reden. Wir haben kein Problem mit Kritik und Selbstkritik. Darüber hinaus prüfen wir selbst juristische Wege, wie die PKK von der Liste terroristischer Organisationen gestrichen werden kann.

ZEIT: Können Sie uns ein Beispiel für eine Aktion der PKK aus der Vergangenheit nennen, die Sie heute bereuen?

Bayık: Zum Beispiel unsere Politik gegenüber den Dorfschützern in der Türkei ...

ZEIT: ... jenen Kurden, die vom türkischen Staat bewaffnet und bezahlt wurden und im Kampf gegen die PKK geholfen haben.

Bayık: Wir haben mal auf einem Parteitag entschieden, ihre Namen zu veröffentlichen. Heute aber haben wir zu den meisten dieser Dorfschützer, die uns gegenüber feindlich eingestellt waren, Kontakt. Sie unterstützen uns. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt.

ZEIT: Über die Kurden im Nahen Osten heißt es, dass sie gerade die Lage in der Region nutzen, um ihrem Traum von Autonomie näher zu kommen, wie den syrischen Bürgerkrieg, in dessen Wirren das Autonomiegebiet in Rojava aufgebaut wurde, zu dem auch Kobani gehört. Was sagen Sie dazu?

Bayık: Selbstverständlich ergeben sich Gelegenheiten, die man nutzt. Aber eine Bewegung kann sich nicht nur dadurch entwickeln, dass sie Gelegenheiten nutzt. So sollte die PKK nicht gesehen werden. Unsere fundamentalen Prinzipien sind: Selbstbewusstsein entwickeln; sich alles erkämpfen und zu einer Lösungsmacht werden. So war es in Kobani. Nicht nur Amerika, alle haben geschwiegen, als der IS die Stadt angriff. Alle hatten geglaubt, dass Kobani fallen würde, und fingen an, ihre Politik danach auszurichten. Als klar wurde, dass Kobani nicht fallen würde, als das Volk Kobanis und das Volk von Suruç auf der türkischen Seite sich verbündet hatten, erst dann hat sich Amerika eingeschaltet. Dann wollten alle Teil dieses Widerstandes werden. Denn nicht Teil des Widerstandes zu sein hieß von nun an, auf der Seite des IS zu stehen. Und das konnte weder Amerika, noch konnten dies die europäischen Länder akzeptieren.

ZEIT: Hat die PKK Truppen in Kobani?

Bayık: Natürlich. Das ist unsere Aufgabe. Wir haben Unterstützung nicht nur nach Kobani geschickt, sondern auch nach Südkurdistan, nach Schengal, Mahmur, Kirkuk und Jalawla. Unsere Guerillakämpfer haben heilige Orte der Jesiden vor dem IS gerettet. Wir haben sie in die Hügel nördlich von Dohuk geschickt, als der IS im Anmarsch war. Die Region musste verteidigt werden. Unsere Streitkräfte befinden sich noch dort.

ZEIT: Was ist der letzte Stand in Kobani? Was hören Sie von Ihren Kämpfern?

Bayık: Kobani hat seine schlimmste Zeit hinter sich. Nur noch ein sehr kleiner Teil der Stadt ist in der Hand des IS. Jeden Tag erobern unsere Einheiten Land zurück. Ein Teil unserer Kämpfer hat die Stadt bereits verlassen, um die Versorgungswege des IS zu zerstören. Die Türkei und andere Mächte wollen vielleicht, dass der Krieg in Kobani lange dauert. Wir aber wollen diesen Krieg so schnell wie möglich beenden.

ZEIT: Warum sollte die Türkei so etwas wollen?

Bayık: Türkei bedeutet IS, die AKP ist der IS. Die AKP hat den IS stark werden lassen und das Unheil auf die Menschen losgelassen. Vielleicht haben ihn auch andere Mächte unterstützt, aber die eigentliche Unterstützung ging von der AKP aus.

ZEIT: Das wird immer wieder behauptet, ohne dass es jemals bewiesen wurde.

Bayık: Es gibt Gründe, warum die AKP dem IS geholfen hat. Erstens: Sie stehen sich ideologisch nahe. Zweitens: Sie wollen beide die Kurden treffen. Dabei sind die Kurden die Einzigen, die gegen den IS kämpfen können, und unter den Kurden am stärksten und effektivsten kann es die PKK. Das war ja nun deutlich zu sehen. Die Türkei will das Kurdenproblem nicht lösen. Sie sieht nicht ein, dass es da ein Problem gibt. Sie akzeptiert nicht, dass das kurdische Volk natürliche Rechte hat. Was sagt die Türkei seit Jahren: "Die PKK ist eine terroristische Organisation, sie macht Terror, und wir verteidigen die Türkei gegen den Terror." Diese Aussage hat ausgedient. Das ist die Realität. Weil die Türkei das Kurdenproblem nicht lösen will, will sie auch keine Autonomie in Rojava.

ZEIT: Warum? Die Regierung von Erdoğan war die erste, die ernsthaft das Gespräch mit Ihnen gesucht hat.

Bayık: Die Kurden haben im Nordirak einen Autonomiestatus. Wenn die Kurden in Rojava es nun auch noch schaffen, ihre Autonomie zu festigen, dann müsste die Türkei den Kurden bei sich auch diesen Status zugestehen. Aber das will sie nicht. Also muss Rojava ausgelöscht werden. Die Türkei will verhindern, dass die Kurden bei der Gestaltung des neuen Syriens eine Rolle spielen. Sie will eine Hegemonie im Nahen Osten errichten, indem sie die sunnitische Front stärkt, wie etwa den IS. Warum wohl hat sie bei der Anti-IS-Koalition nicht mitgemacht? Wäre die Türkei in diese Koalition eingetreten, hätte der IS seine Beziehungen zur Türkei offengelegt. Diese Beziehungen sind viel intensiver, als viele von euch es sich vorstellen können. Der wahre Kalif ist nicht Abu Bakr al-Bagdadi, sondern Tayyip Erdoğan.

ZEIT: Das sind schwerwiegende Vorwürfe.

Bayık: Innerhalb des IS und der Freien Syrischen Armee gibt es türkische Spezialeinheiten. Das sind inoffizielle Kräfte, nirgends registriert. Sie kämpfen gegen uns. Einen Krieg mit regulären Streitkräften kann die Türkei nicht mehr gegen uns führen, aber mit diesen Einheiten schon.

ZEIT: Aber woher wissen Sie das?

Bayık: Wenn ich das nicht wüsste, würde ich es nicht sagen.

ZEIT: Das sind schwere Beschuldigungen. Liefern Sie uns doch die Beweise dafür.

Bayık: Natürlich sind das schwerwiegende Beschuldigungen. Aber wir sagen die Wahrheit. Wir haben es nicht nötig, Propaganda zu betreiben. Die AKP hat nicht das Ziel, eine Lösung mit uns zu finden. Sie hat auch keine Idee, wie eine Lösung unseres Problems aussehen könnte.

ZEIT: So sprechen Sie über ein Land, mit dem Sie über einen Friedensprozess verhandeln.

Bayık: Dieser Prozess ist einseitig. Wir bereuen nicht, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben. Damit es zu einer Einigung kommt, hat unser Anführer Abdullah Öcalan nun einen Verhandlungsentwurf vorbereitet, eine Art Roadmap. Wir haben die Regierung um eine Einschätzung dieses Vorschlags gebeten. Wenn die türkische Regierung diesen Vorschlag nicht akzeptiert, werten wir dies als Kriegsvorbereitung. Das akzeptieren wir nicht.

ZEIT: Als Kriegsvorbereitung gegen die Kurden – wirklich?

Bayık: Ja. Aber sie werden jetzt keinen Krieg gegen uns anfangen, schließlich steht im nächsten Jahr eine Parlamentswahl an. Die AKP-Regierung will erst die Wahl gewinnen, eine Mehrheit erlangen, mit der sie ein Präsidialsystem einführen kann – und dann wird sie Krieg führen. Deswegen wollen wir, dass die Dinge noch vor den Wahlen offengelegt werden. Ob es dann Verhandlungen mit uns geben wird oder nicht. Um unser Problem mit der Türkei zu lösen, haben wir etwas gemacht, was noch keine Bewegung auf dieser Welt jemals gemacht hat: Seit 1993 haben wir neunmal einseitig den Waffenstillstand erklärt. Wir haben auch einseitig Kriegsgefangene freigelassen. Wir haben unsere Kämpfer ab März 2013 aus der Türkei zurückgezogen und in den Süden versetzt. Wir haben den Krieg beendet. Normalerweise schaffen so etwas Konfliktparteien nur mithilfe einer dritten, moderierenden Partei.

ZEIT: Sollte es bei den Friedensverhandlungen zwischen der Türkei und der PKK einen Vermittler geben?

Bayık: Wir haben das bereits öffentlich diskutiert. Ohne eine dritte Partei kann kein Problem der Welt gelöst werden. Die Türkei vertraut am meisten den USA. Die USA könnten dieser Vermittler sein.

ZEIT: Und damit wären Sie einverstanden – mit dem kapitalistischen System USA? Steht das nicht Ihren marxistisch-leninistischen Grundprinzipien entgegen?

Bayık: Die USA wären eine Möglichkeit. Wir wollen die Lösung des Konflikts mit den Türken. Die Amerikaner sind heute unsere Verbündeten in Kobani. Sie kämpfen gegen den IS so wie wir.

ZEIT: Haben Sie Beziehungen zu den USA? Hat Amerika Ihnen Botschaften gesendet?

Bayık: Die USA können im Nahen Osten keine Politik ohne die Kurden machen.

ZEIT: Hat Amerika denn verstanden, dass es ohne die Kurden nicht geht? Bis jetzt ging es nämlich.

Bayık: Die Kurden sind heute die dynamischste Kraft im Nahen Osten. Sie kämpfen am entschiedensten, sie sind am besten organisiert. Wollen die Amerikaner in der Region Politik machen, können sie das nicht ignorieren. Amerika hat eine Koalition gegen den IS gegründet. Doch diese Koalition ist nur erfolgreich mithilfe der Kurden. Könnte diese Koalition erfolgreich sein, ohne dass die Amerikaner eine Beziehung zu den Kurden hätten? Wie soll Amerika ohne die PKK erreichen, dass die Türkei ihre Unterstützung für den IS beendet? Das ist unmöglich. Wie will Amerika seine Ziele im Nahen Osten ohne die PKK erreichen? Ohne die Kurden? Das geht nicht. Wie will Europa ohne uns seine Abhängigkeit vom russischen Gas beenden? Der Weg des Erdöls und Erdgases zum Mittelmeer führt auch durch Rojava. Wenn dieser Weg gesichert werden könnte, könnte auch Europa aufatmen.

ZEIT: Sie wollen Europa bei der Energieversorgung helfen?

Bayık: Ja, natürlich. In Europa hat die Epoche der Aufklärung die Renaissance gebracht. Der Nahe Osten wird seine Renaissance über das kurdische Volk erlangen.

ZEIT: Glauben Sie, die türkische Regierung wird irgendeine Ihrer Forderungen akzeptieren?

Bayık: Auch wenn es 400 Jahre dauert, wir führen den Kampf weiter. Keiner kann uns vom Widerstand abhalten, keiner uns von den Bergen herunterholen.

ZEIT: Wie sieht die junge Generation eigentlich die alte Feindschaft zu der Türkei?

Bayık: Die junge Generation ist sehr wütend.

ZEIT: Wütender als Sie, die alten Kämpfer?

Bayık: Sie sind wütender als wir. Zu unserer Zeit lagen die Dinge noch anders. Wir haben an den türkischen Universitäten studiert und lernten dort die linke Idee kennen. In der linken Bewegung haben wir gelernt, was es heißt, Kurde zu sein. Die heranwachsende Generation wird doch nur noch unterdrückt. Ihre Dörfer wurden verbrannt, sie wurde vertrieben. Wo die Jungen auch hingegangen sind, wurden vor ihnen die Türen zugeschlagen. So war die Staatspolitik. Was der türkische Staat gemacht hat, hat nicht einmal Saddam Hussein den Kurden angetan. Er hat vielleicht Dörfer zerstört, aber ihnen wenigstens andere Orte zugewiesen, wo sie bleiben konnten. Meine Generation ist die letzte Chance auf Frieden. Es wird für uns zunehmend schwer, die Jungen zu kontrollieren.

ZEIT: Haben Sie denn Hoffnung, dass es Frieden zwischen der Türkei und den Kurden geben wird?

Bayık: Hoffnung ist eine ganz andere Sache. Als wir anfingen, waren wir weder besonders aufgeklärt noch erfahren. Möglichkeiten hatten wir auch nicht. Wir waren eine Handvoll Leute und hatten nichts außer Hoffnung. Wir sind eine Bewegung der Hoffnung. Hoffnung lässt einen leben, sie befähigt einen dazu, Widerstand zu leisten. Heute aber sieht unsere Lage ganz anders aus. Es gibt gerade keinen Grund, Hoffnung zu haben.

ZEIT: Vermissen Sie die Türkei? Schließlich sind Sie dort geboren und aufgewachsen.

Bayık: Momentan gibt es nichts, was man dort vermissen könnte. Aber wenn es endlich Frieden gibt, würde ich auch dahin zurückkehren. Die Türkei ist schön. Was soll ich dann hier noch?

ZEIT: Würden Sie dann weiter Politik machen?

Bayık: Was soll ich denn sonst machen? In der PKK geht man nicht in Rente.