Die Presse, 08.01.2015

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Türkei: Linksextremisten kündigen weitere Anschläge an

Nach dem Anschlag einer Selbstmordattentäterin fordert die marxistische Organisation DHKP-C den Auschluss von vier Ex-Ministern aus dem Parlament. Die Identität der Attentäterin bleibt indessen noch unklar.

Istanbul. Die Sicherheitsbehörden in der Türkei stellen sich auf neue Anschläge ein. Nach dem Selbstmordanschlag in der Innenstadt von Istanbul am Dienstagabend kündigte die linksextreme Gruppe DHKP-C neue Gewalttaten an und drohte mit Mordanschlägen auf Politiker in Ankara. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden im ganzen Land verschärft.

Die „Kriegerin Feda“ habe den Anschlag in der Istanbuler Altstadt verübt, erklärte die DHKP-C auf ihrer Internetseite. „Feda“ hatte sich in der Polizeiwache in Sultanahmet in der Nähe der Hagia Sophia und der Blauen Moschee als Touristin ausgegeben, die ihre Geldbörse verloren habe. Dann zündete sie den Sprengsatz, den sie bei sich trug, und riss den Polizeibeamten Kenan Kumaş mit in den Tod. „Feda“ soll noch weitere Bomben am Körper getragen haben, die aber entschärft werden konnten.

Selbstmordanschläge gehören zu den bevorzugten Methoden der DHKP-C, einer 1978 gegründeten marxistischen Organisation, die vor allem Einrichtungen von Polizei und Armee sowie US-Interessen in der Türkei angreift. Vor fast genau einem Jahr sprengte sich ein Mitglied im Eingangsbereich der US-Botschaft in Ankara in die Luft und tötete sich selbst und einen Wachmann. In jüngster Zeit begründet die Gruppe ihre Aktionen mit der mutmaßlichen Korruption in der Regierung und mit der Polizeigewalt bei den Gezi-Unruhen vom Sommer 2013. Erst vergangene Woche hatte ein DHKP-C-Mitglied versucht, den Istanbuler Amtssitz von Premier Ahmet Davutoğlu anzugreifen.

Englisch mit Akzent

Die Behörden identifizierten die Attentäterin „Feda“ als Elif Sultan Kalsen, eine Linksextremistin, die bereits in der Vergangenheit der Polizei aufgefallen sein soll. Kalsens Eltern eilten am Mittwoch ins Leichenschauhaus, um ihre Tochter zu identifizieren. Anschließend erklärten sie über ihre Anwältin, die Leiche sei nicht die ihrer Tochter. Daher blieb unklar, wer die Attentäterin wirklich war. Sie soll in der Polizeiwache Englisch mit Akzent gesprochen haben.

Die DHKP-C drohte jedenfalls in ihrer Bekenner-Erklärung vor allem vier unter Korruptionsverdacht stehenden Ex-Ministern, die nach einem Votum eines Parlamentsausschusses vor einem Prozess verschont bleiben sollen. Sie sollten ihre Parlamentsmandate niederlegen und das Land verlassen, forderten die Extremisten. Nichts könne die Politiker schützen, warnte die Gruppe.

Mit besonderem Hass bedachte die DHKP-C den ehemaligen Europaminister Egemen Bağiş. Dieser hatte die Teilnehmer einer Trauerfeier für den bei den Gezi-Unruhen getöteten Teenager Berkin Elvan als Nekrophile“ beschimpft. Elvan, der im vergangenen Jahr nach mehreren Monaten im Koma starb, wäre am vergangenen Sonntag 16 Jahre alt geworden. Die DHKP-C hatte für die Zeit um den Geburtstag Anschläge angekündigt.

Polizei nicht ganz einsatzfähig

Laut Medienberichten wurden Einrichtungen der Polizei in der ganzen Türkei in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Die politischen Spannungen bildeten einen guten Nährboden für Terrorakte, schrieb der Politologe Sedat Laciner in einem Beitrag für die Online-Plattform „Internethaber“. Zudem seien wichtige Einheiten der Polizei nach den Massenversetzungen der vergangenen Zeit noch nicht wieder richtig einsatzfähig. Die türkische Regierung hatte nach Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe Ende 2013 mehrere tausend Polizisten versetzen lassen. Und noch etwas nütze den Extremisten: Wegen der Konflikte in Syrien und Irak seien die Grenzen porös, was die Einfuhr von Munition und Sprengstoff erleichtere. (güs)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2015)