Wiener Zeitung, 07.01.2015

http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europachronik/726829_Wir-Kurden-stehen-an-der-vordersten-Verteidigungslinie-Europas.html

Interview

"Wir Kurden stehen an der vordersten Verteidigungslinie Europas"

Von Thomas Seifert

Der Chef der Kurdenpartei PYD, Saleh Muslim, fordert vom Westen Unterstützung im "gemeinsamen Kampf gegen den Terror".

Saleh Muslim ist Chefs der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), welche die Kurdengebiete in Syrien kontrolliert.

Saleh Muslim: Ich bin in Gedanken bei den Familien und Freunden der Ermordeten. Wir müssen heute alle hinter Frankreich stehen. Seit einigen Jahren klopfen wir Kurden an alle Türen in Europa und bitten um Unterstützung. In unserem Kampf gegen die Dschihadisten. In Syrien und im Irak verteidigen wir nicht nur uns, die Terroristen haben uns alle im Visier: Sie wollen einen Arabischen Staat im Nahen Osten errichten und wollen ihn bis nach Europa ausdehnen. Gab es nicht Anschläge in London? In Madrid? Nun in Frankreich? Die Salafisten und Dschihadisten sagen ja sogar, sie wollen bis nach Wien marschieren, weil zuletzt 1683 muslimische Armeen vor den Toren der Stadt lagerten. Der Terror ist ein globales Problem geworden. Und nach langem Hin und Her hat sich endlich eine - wenn auch schwache - internationale Koalition gegen den Terror in Syrien gebildet. Wir Kurden stehen an der vordersten Verteidigungslinie und damit meine ich auch die vorderste Verteidigungslinie Europas. Aber wir brauchen Waffen, Ausrüstung um uns und unsere Gleichgesinnten verteidigen zu können. Unsere Gegner haben ausgereifte Waffensysteme, darunter auch Artillerie, wir haben wenig wirkungsvolle Waffen.

Haben ihre europäischen Gesprächspartner das erkannt?

Sie haben nun erkannt, wie gefährlich die Situation ist. Die unangenehme Wahrheit ist aber die: Es gibt viele Kämpfer, die aus Europa in den Nahen Osten gekommen sind. Warum ziehen diese jungen muslimischen Europäer in den Krieg nach Syrien oder in den Irak? Die Antwort: Jemand hat ihre Hirne vergiftet. Die Religion wurde von einigen gewissenlosen Politikern und Strategen zu einem Werkzeug gemacht. Was wir in der muslimischen Welt brauchen ist das, was Europa vor hunderten Jahren vollbracht hat: Hier hat man weitgehend die Religion auf die Kirche beschränkt und von der Straße verbannt. Der Islam ist in der Moschee am besten aufgehoben, als Botschaft des Friedens und der Menschlichkeit. Doch jene, die mit dem Islam politisches Kleingeld wechseln und die Religion für ihre politischen, wirtschaftlichen und strategischen Ziele missbrauchen, bekommen viel Unterstützung von den Golfstaaten, aus Katar, aus Saudi-Arabien. Meine Botschaft an die Golfstaaten: Wenn ihr für Syrien Demokratie wollt, fangt am besten erst zu Hause bei euch an.

In Europa warnen einige Experten davor, was passiert, wenn die Dschihihadi-Kämpfer aus Syrien nach Europa zurückkommen.

Was in Paris passiert ist, das geschieht in unserer Region jeden Tag. Wir kennen den Schmerz Frankreichs. Das wichtigste ist, darauf zu drängen, die Bildungsstandards im Nahen Osten zu erhöhen. Den jungen Menschen, die die Dschihadis rekrutieren wollen mitzuteilen: Es gibt ein Leben vor dem Paradies.

Ihre Partei hat sich nun bereit erklärt, bei den Syrien-Friedensverhandlungen am 22. Jänner in Genf teilzunehmen. Gibt es eine Chance auf ein Ende des Krieges?

Wir nehmen daran teil und wollen unsere Kurdenregion als Vorbild eines zukünftigen multiethnischen und demokratischen Syrien präsentieren. Aber ich will ganz ehrlich sein und muss zugeben, ich fürchte, dass es noch lange dauern wird, bis wieder Frieden in Syrien einkehrt.