Neue Zürcher Zeitung, 09.01.2015

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Erdogans Parallelwelt

Inga Rogg, Istanbul

Präsident Erdogan greift nach der alleinigen Macht in der Türkei. Präsident Erdogan greift nach der alleinigen Macht in der Türkei. (Bild: Kayhan Ozer / Presidential Palace Press Office / Reuters)
Es ist noch nicht lange her, da galt Recep Tayyip Erdogan als Vorbild für den Nahen Osten. Davon ist nichts geblieben. Als Präsident der Türkei reisst er immer mehr Macht an sich.

Korruption in der Türkei? Das gibt es nicht. Einschüchterung von Kritikern oder Journalisten? Das gibt es nicht. Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder islamfeindlich oder Teil einer internationalen Verschwörung oder beides. Das hämmern Regierungsvertreter und ihre Hofberichterstatter der türkischen Öffentlichkeit Tag für Tag ein.

Den Vogel schoss dabei gleich zu Jahresbeginn einmal mehr Präsident Recep Tayyip Erdogan ab. Nirgendwo sei die Presse freier als in der Türkei, sagte er an einem Empfang für Diplomaten. Zur gleichen Zeit durchsuchte eine Anti-Terror-Einheit in der mehrheitlich kurdischen Stadt Diyarbakir die Wohnung der niederländischen Journalistin Frederike Geerdink und brachte sie auf einen Polizeiposten, wo sie wegen «terroristischer Propaganda» für die Arbeiterpartei Kurdistans und der Verbreitung «negativer Ansichten» über die Regierung verhört wurde.

Abgewürgte Ermittlungen

Vergangene Woche hatte die Polizei die Fernsehmoderatorin Sedef Kabas wegen Tweets über den Korruptionsskandal vorübergehend festgenommen und verhört. Die Korruptionsermittlungen, die vor gut einem Jahr in der spektakulären Festnahme von Dutzenden von Politikern und Geschäftsleuten mündeten, hat die Regierung mit der Versetzung von Ermittlern und Richtern abgewürgt. Diese Woche entschied eine parlamentarische Untersuchungskommission, dass sich vier ehemalige Minister nicht vor Gericht verantworten müssen. Zwar muss der Beschluss noch vom Parlament bestätigt werden, doch gilt dies angesichts der satten Mehrheit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) als sicher.

Unter Anklage stehen mittlerweile Dutzende von Personen wegen Beteiligung an einem Putschversuch, unter ihnen Polizisten und Journalisten. «Parallelstaat» lautet in diesem Zusammenhang das Schlagwort von Erdogan und seinen Anhängern. Einen solchen habe die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen aufgebaut. Gegen Gülen selbst, der im amerikanischen Exil lebt, erliess ein Istanbuler Gericht einen Haftbefehl. Nun sind die Gülen-Anhänger wahrlich keine Waisenknaben. Mit den fragwürdigen Prozessen gegen Putschisten und der Diffamierung von kritischen Journalisten haben sie in den letzten Jahren ihren Teil zur Politisierung der Justiz und der Selbstzensur in türkischen Medien beigetragen.

Insofern könnte man den Schlag gegen die Gülen-Bewegung als Ironie der Geschichte abtun, wie das manche ihrer Kritiker tun. Das verkennt freilich, in welch gefährlichem Fahrwasser sich die Türkei bewegt. Seit seiner Wahl zum Präsidenten hat Erdogan zahlreiche Schritte unternommen, um das Land in eine Präsidialdemokratie zu verwandeln. Demnächst will er erstmals eine Kabinettssitzung unter seiner Regie abhalten. Diese Möglichkeit bietet ihm zwar die Verfassung, doch Erdogan will daraus eine Dauereinrichtung machen. In türkischen Medien wird seit Wochen über ein angebliches Schattenkabinett im Präsidentenpalast spekuliert.

Schwacher Davutoglu

Vor einem Jahr sorgte der damalige Staatspräsident Abdullah Gül noch für die Entschärfung von Gesetzesvorhaben, mit denen Erdogan als Ministerpräsident die Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung aushebelte. Gül ist ausgebootet worden. Von seinem Nachfolger als Regierungs- und Parteichef, Ahmet Davutoglu, muss Erdogan derartigen Widerspruch nicht fürchten. Gesetze, die er wünschte, wurden inzwischen entweder in einer Neufassung verabschiedet oder werden dem Parlament erneut vorgelegt. Dabei ist Davutoglu keineswegs einfach der Handlanger des Präsidenten. Gegen das Ansinnen, das Amt des Ministerpräsidenten zu schwächen, setzte er sich, wenn auch verhalten, zur Wehr. Zudem hat er sich für die Korruptionsbekämpfung ausgesprochen.

In den Reihen der AKP soll es kräftig rumoren. Dass die AKP-Abgeordneten im Untersuchungsausschuss einstimmig zugunsten der belasteten Minister stimmten, deutet darauf hin, dass Davutoglu zu schwach ist, um die Partei auf seinen Kurs zu bringen. Kaum war der Entscheid gefallen, stimmte auch er in den Chor derjenigen ein, die den Skandal als Verschwörung abtaten. Angesichts dessen ist es unwahrscheinlich, dass die Kritiker innerhalb der Partei gegen den Präsidenten aufmucken.

Den Griff nach der alleinigen Macht rechtfertigt Erdogan gerne mit dem «nationalen Willen», worunter er einzig und allein das Wählervotum versteht. Der kurdische Politiker Selahattin Demirtas drehte den Spiess kürzlich um, als er die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug in das Parlament als Verletzung des nationalen Willens bezeichnete. In einem eigentümlichen Entscheid hat das Verfassungsgericht vor wenigen Tagen die Annahme einer Klage gegen diese Bestimmung abgelehnt. Zuvor hatten AKP-nahe Medien Stimmung gegen das höchste Gericht gemacht, in dem sie es in eine Reihe mit dem nebulösen «Parallelstaat» stellten.

Zurück in die Vergangenheit

Um formal ein Präsidialsystem einzuführen, müsste die AKP bei den im Sommer anstehenden Parlamentswahlen eine Zweidrittelmehrheit erringen. Die Opposition hofft, dass sie mit den Korruptionsvorwürfen punkten kann, aber das ging schon im letzten Jahr schief. Viel wichtiger könnte das Abschneiden der kurdischen HDP werden, die nicht mit unabhängigen Kandidaten, sondern als Partei antreten will. Schafft sie den Einzug ins Parlament nicht, kämen die Stimmen der AKP zugute. In der Türkei wird deshalb über einen Deal zwischen der Regierung und der HDP spekuliert. Aber die Spannungen in den kurdischen Gebieten haben in jüngster Zeit wieder zugenommen. Dabei wurden zwei Jugendliche bei Zusammenstössen getötet. Man kann über die bizarren Äusserungen von Erdogan spotten. Tatsächlich erinnert aber vieles an die dunklen neunziger Jahre.