Tiroler Tageszeitung, 14.01.2015

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Kurdistan als demokratische Hoffnung für den Nahen Osten?

Wien (APA) - Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zieht die Grenzen im Nahen Osten neu. „Syrien ist Geschichte“, sagt der Kurdistan-Experte an der Uni Wien, Thomas Schmiedinger. Der Irak trägt mehr und mehr die Züge eines „failed state“, eines gescheiterten Staates. Die Kurden sehen ihre historische Chance, das vor 100 Jahren geschmiedete Sykes-Picot-Abkommen zu ihrem Vorteil zu münzen.

Pragmatismus ist das Stichwort der Stunde für die Kurden: Kein eigener Kurdenstaat über vier Ländergrenzen hinweg, sondern mehrere demokratische Selbstverwaltungen werden als Ziel angepeilt, sagte der Obmann des „Verbandes der Kurdischen Vereine in Österreich“ (FEYKOM), Mevlüt Kücükyasar bei einer Veranstaltung des Renner Instituts „Zur aktuellen Lage in Kurdistan“ am Dienstagabend in Wien. Ein eigener kurdischer Staat sei illusorisch oder werde aus pragmatisch-strategischen Gesichtspunkten verworfen, erläutert die Historikerin und Journalistin Gudrun Harrer: „Ein Staat, den keiner will, hat keine Chance.“ Bei einer Umfrage unter Kurden würde die Mehrheit aber dennoch einen eigenen Staat befürworten, so die Einschätzung des Politologen Schmiedinger.

Die halbautonome Kurdenprovinz im Nordirak existiert bereits seit rund zehn Jahren, in Syrien hat die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) im Sommer 2012 ein de-facto-autonomes Gebiet ausgerufen. Die Stärke der PYD sei, so der Kurdistan-Experte Schmiedinger, dass sie mit der YPG ihre eigenen Kämpfer hätten. Mit dem syrischen Regime gebe es in einigen Teilen eine Art „Koexistenz“. So würden etwa in der Provinzstadt Qamishli die Lehrergehälter immer noch von der Assad-Regierung bezahlt. PYD-Führer Salih Muslim argumentiert, dies sei der Pakt, um die eigenen Städte vor der brutalen Zerstörung zu schützen, wie sie etwa Aleppo erlebte.

Das Vorrücken der Terrormiliz Islamischer Staat und der Schrecken, den die Jihadisten im Nahen Osten und im Westen verbreiten, lässt auch ehemalige Feindbilder in einem anderen Licht erscheinen. SP-Klubchef Andreas Schieder, der gemeinsam mit Fraktionsvertretern von den Grünen und der ÖVP im Oktober des Vorjahres einen Lokalaugenschein an der türkisch-syrischen Grenze absolvierte, wertet das Verbleiben der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK auf der Terrorliste der EU als „schweren politischen Fehler“. „Die PKK gehört dringend von der Terrorliste gestrichen“, erklärte Schieder am Dienstag neuerlich. Die Liste sollte „echten Terroristen“ wie dem Islamischen Staat (IS) vorbehalten bleiben, denn dieser „bedroht unsere fundamentalen Werte“.

Der gemeinsame Feind hat die unterschiedlichen Fraktionen zusammenrücken lassen, trotz ideologischer Spannungen und gegenseitigem Misstrauen. Auch der Iran hat mit seiner scharfen Verurteilung der Gräueltaten der IS Imagewerbung in eigener Sache betrieben. Tatsache sei, so die Nahostexpertin Harrer, dass ohne die Unterstützung des Iran und der schiitischen Milizen im Irak auch die Kurdenmetropole im Nordirak, Erbil, an die Terrormiliz gefallen wäre. Aber die Hauptstadt der Autonomieregion Kurdistan befinde sich weiterhin „in einer prekären militärischen Situation“. Der Iran leistet mit dem Einsatz von militärischen Beratern in Erbil und Bagdad Schützenhilfe gegen die Jihadisten. Diese könnten aber immer noch auf die Unterstützung eines großen Teils der sunnitischen Araber zählen. Der vielbeschworene sunnitische Aufstand gegen die schiitisch dominierte Zentralregierung in Bagdad habe dazu geführt, das die sunnitischen Stammesführer „einen Pakt mit dem Teufel geschlossen“ hätten, führte die Nahostexpertin aus. Dieser Konflikt mit den Sunniten könne nur diplomatisch gelöst werden.

Kücükyasar kritisierte die dubiose Rolle der Türkei im Kampf gegen den jihadistischen IS-Terror. Er beschuldigte die Türkei, dass die Angriffe auf die kurdische Stadt Kobane im syrisch-türkischen Grenzgebiet mit Unterstützung der Türkei erfolgten. Die auch international immer wieder erhobenen Vorwürfe, die Türkei habe den Al-Kaida-Ableger, die Terrorgruppen Al-Nusra und den Islamischen Staat gegen die Kurden in Stellung gebracht und mit Waffen und Logistik unterstützt, wiederholte er. Die Türkei vertritt die offizielle Linie, dass für sie zwischen den kurdischen Rebellen der PKK und den Kämpfern des Islamischen Staates kein Unterschied herrscht. „Beides sind Terrororganisationen“, hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Zuge der Oktoberproteste klar gelegt.

Kobane ist zwar letzten Berichten zufolge großteils von den kurdischen Kämpfern zurückerobert worden. Die Stadt sei aber in Schutt und Asche gelegt, so Schmiedinger. In der Türkei ist der Friedensschluss mit den Kurden trotz anderslautender Bekenntnisse der AKP-Führungsspitze vom Scheitern bedroht. Auch das massive Vorgehen der Polizeikräfte gegen die kurdischen Solidaritätskundgebungen für Kobane und Anti-IS-Proteste - bei den Unruhen im Oktober starben über 40 Menschen - hat laut Kücükyasar gezeigt, dass die Türkei „nicht ernsthaft an einem Frieden interessiert ist“. Der Obmann befürchtet, dass „ein kurdischer Nationalstaat in der Region zu weiteren Kämpfen und Kriegen in der Region führen würde“.

Die willkürliche Grenzziehung des Geheimvertrages von Sykes-Picot vor 100 Jahren legte den Grundstein für das heutige Chaos und die blutigen Konflikte im Nahen Osten. Die Kurden gelten als die Verlierer dieser Ordnung. Heute ist die kurdische Bevölkerung auf die Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien verteilt. Das Erstarken der Terrormiliz Islamischer Staat in der Region und in Folge die Bürgerkriege haben Millionen Menschen in die Flucht getrieben. In die Türkei sind geschätzte 1,6 Millionen geflüchtet, die Autonome Region Kurdistan im Nordirak hat einen Großteil der 1,5 Millionen Irak-Flüchtlinge zu verkraften, der Libanon steht mit offiziell 1,1 Millionen syrischen Vertriebenen auf der Kippe der Destabilisierung.

Europa ist immer noch zögerlich mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsgebieten des Nahen Ostens. Man solle sich keinen Illusionen hingegeben, so Harrer. Sie glaube kaum, dass die Flüchtlinge dorthin wo sie vertrieben wurden, zurückkehren könnten.