junge Welt, 15.01.2015

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Erdogan ist nicht Charlie

Istanbul: Razzia gegen türkische Charlie Hebdo-Ausgabe

Von Nick Brauns

Auf der Suche nach Mohammed-Karikaturen hat die türkische Polizei in der Nacht zum Mittwoch in Istanbul die Druckerei der renommierten Tageszeitung Cumhuriyet durchsucht. Die den laizistischen Werten von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verpflichtete Cumhuriyet hatte angekündigt, die neue Ausgabe der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo als Beilage in türkischer Sprache zu veröffentlichen. Die türkische Ausgabe sei überhaupt »die wichtigste«, hatte Charlie Hebdo-Chefredakteur Gerard Biard zuvor über die in dieser Woche in 14 Sprachen erscheinende Zeitschrift erklärt. »Die Türkei erlebt derzeit stürmische Zeiten, und der Säkularismus steht unter Beschuss.« Am Mittwoch nachmittag meldete Hürriyet Daily News, dass ein türkisches Gericht die Sperrung von Webseiten angeordnet hat, die das aktuelle Cover von Charlie Hebdo zeigen.

In Frankreich erschien die erste Ausgabe der Satirezeitschrift nach dem blutigen Anschlag vor einer Woche mit dem Titelbild eines um die getöteten Karikaturisten weinenden Propheten Mohammed. Die Cumhuriyet-Redaktion habe nach langen Abwägungen auf den Abdruck dieses Covers aus Rücksicht auf religiöse Gefühle verzichtet, erklärte deren Chefredakteur Utku Cakirözer. Erst nachdem sich auch die Polizei davon überzeugt hatte, durften die Zeitungsauslieferungswagen das Druckereigelände verlassen. Die Entscheidung, die Charlie-Beilage zu drucken, hatte im Umfeld der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP für Empörung gesorgt. So nannte die regierungsnahe Tageszeitung Yeni Safak die Cumhuriyet eine »Komplizin einer Zeitschrift, die die heiligen Werte beleidigt und Hassverbrechen gegen Muslime begeht und ihre Religion verächtlich macht«.

Der türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoglu, der an der zentralen Trauerfeier in Paris teilgenommen hatte, verglich im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) mit der moslemfeindlichen Pegida-Bewegung in Deutschland. Beide hätten die gleiche »mittelalterliche Mentalität«. Was hinter den Pariser Blutbädern stecke, seien »Rassismus, Hassreden und Islamophobie«, hatte zuvor der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärt und die Reaktionen auf die Anschläge als von »Hass auf den Islam« durchdrungen bezeichnet. »Wir als Muslime standen niemals auf der Seite des Terrorismus, wir standen niemals auf der Seite von Massakern«, behauptete Erdogan, während der IS bei seinen Angriffen auf Syrien weiterhin von türkischem Territorium aus operieren kann und dort über Infrastruktur wie Krankenhäuser und Ausbildungscamps verfügt.

Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökcek, wiederum sieht den israelischen Geheimdienst Mossad als Drahtzieher der Anschläge, die er als Vergeltungsaktion für die Entscheidung der französischen Nationalversammlung, den Staat Palästina anzuerkennen, begreift. Dies sei ein Versuch, den Hass gegen Muslime in Europa weiter anzuheizen, so der AKP-Politiker.

In einigen islamistischen Kreisen der Türkei wurde offene Sympathien für die Pariser Attentäter geäußert. So wurden in der Stadt Tatvan am Vansee die von der französischen Polizei getöteten Brüder Said und Chérif Kouachi, die das Massaker in der Charlie Hebdo-Redaktion begangen hatten, in Aushängen der Stadtverwaltung als »Märtyrer« gefeiert. »Grüße an die Kouachi-Brüder, die Rache für den Propheten Allahs genommen haben«, heißt es dort. Die von der AKP gestellte Stadtverwaltung weigerte sich laut einer Meldung der kurdischen Nachrichtenagentur Bestanuce trotz empörter Reaktionen aus der Bevölkerung, die Plakate abzunehmen.

Urheber der namentlich nicht gekennzeichneten Plakate könnte eine der religiösen Bruderschaften sein, auf die sich die AKP stützt. So hatten mehrere türkische Zeitungen über eine Trauerfeier der Aczmendi-Bruderschaft, einer dem säkularen Staat in offener Feindschaft gegenüberstehenden Splittergruppe der Nurculuk-Bewegung, für die Pariser Attentäter in Istanbul berichtet.

Der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, Mehmet Görmez, wies unterdessen auf die Doppelmoral des Westens hin. »Wir erleben, wie die Menschheit, die nichts gegen das Massaker an zwölf Millionen Menschen (in der islamischen Welt) sagt, nun gegen den Mord an zwölf Menschen aufsteht.«

Jeder Muslim müsse Terrorismus und Gewalt ohne Wenn und Aber verurteilen. Es dürfe aber keine Unterscheidung zwischen »Terrorismus auf säkularer Grundlage und Terrorismus auf sogenannter religiöser Basis« geben, erklärte Görmez am Dienstag in Edirne zum Krieg des Westens gegen die islamische Welt.