welt.de, 15.01.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article136419175/Lieferte-die-Tuerkei-Waffen-an-al-Qaida-in-Syrien.html

Lieferte die Türkei Waffen an al-Qaida in Syrien?

Die Türkei versucht, angebliche Geheimdokumente im Netz zu fischen. Sie belegen einen Waffentransport nach Syrien. Ein Dokument legt den Verdacht nahe, dass sie für al-Qaida bestimmt waren.

Von Boris Kálnoky Korrespondent

Erneut bringen im Internet veröffentlichte vertrauliche Dokumente die türkische Regierung in Bedrängnis. Unbekannte verbreiteten am Mittwoch Unterlagen der Sicherheitsbehörden über den Kurznachrichtendienst Twitter, in denen es um Ermittlungen zu einem mutmaßlichen Waffentransport des türkischen Geheimdienstes MIT an syrische Rebellen oder an eine andere Gruppe in Syrien geht.

Die Brisanz der Geschichte liegt darin, dass der türkischen Regierung seit geraumer Zeit vorgeworfen wird, zumindest zeitweise islamische Terroristen in Syrien unterstützt zu haben. Beweise dafür gab es bislang nie.

Die Dokumente, die von dem Nutzerkonto @LazepeM veröffentlicht wurden, würden nahelegen, dass die Türkei über ihren Geheimdienst tatsächlich in zumindest einem Fall Waffen nach Syrien transportierte – wenn die Papiere denn echt sind. In jedem Fall geben sie keine Antwort auf die Frage, für wen die Waffen bestimmt waren.

Twitter und Facebook sollen Accounts blockieren

Die Behörden reagierten mit gewohnter Härte auf die Veröffentlichung: Ein Gericht ordnete die Schließung aller Webseiten und sozialen Netzwerke an, auf denen das Material zu finden ist. Twitter und Facebook wurden dementsprechend angewiesen, Accounts zu blockieren, die die Dokumente online stellten – sonst würden die Dienste in der Türkei ganz blockiert.

Twitter soll sich der Anweisung gefügt haben, Facebook nicht. Aber es ist sowieso zwecklos, die Papiere sind bereits vielerorts im Internet einsehbar, zum Beispiel hier. Zusätzlich verfügte die Regierung ein Berichterstattungsverbot für die Medien.

Zur Sache: Im Januar 2014 stoppte die türkische Gendarmerie drei Lastwagen eines angeblichen Hilfstransports, der in Richtung Syrien unterwegs war. Die Gendarmen hatten einen Hinweis erhalten, wonach die mit der Regierung eng liierte "Hilfsorganisation" IHH den Transport organisiere, darin jedoch keine Hilfsgüter, sondern Waffen seien.

Die IHH hatte 2010 bereits die "Hilfsflotte für Gaza" organisiert, die zu einer israelischen Intervention und zum Tod von neun IHH-Aktivisten führte. In den Wikileaks-Depeschen verdächtigen die USA die IHH zudem, eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen zu spielen. Die IHH hat jedoch abgestritten, dass sie irgendetwas mit den drei Lastwagen zu tun gehabt hätte.

Dokumente stammen offenbar aus den Ermittlungsakten

Die Staatsanwaltschaft ordnete aufgrund des Ergebnisses der Durchsuchung der Lastwagen weitere Ermittlungen an. Die Regierung reagierte knallhart: Sowohl die Gendarmen als auch die zuständigen Staatsanwälte stehen nun selbst unter Anklage. Den Medien wurde verboten, über die Sache zu berichten. Die nun veröffentlichten Dokumente stammen offenbar aus den Ermittlungsakten.

Da steht zum Beispiel wortwörtlich, dass die Durchsuchung der Fahrzeuge angeordnet wurde wegen des Verdachts auf einen "Waffentransport an al-Qaida". Außerdem würden die Dokumente, wenn sie echt sind, erstmals belegen, dass tatsächlich Waffen und Munition gefunden wurden und dass der Konvoi vom türkischen Geheimdienst MIT organisiert wurde.

Wohin der Konvoi gegangen wäre, bleibt jedoch ungewiss. Die Unterlagen zitierten den Fahrer eines Lastwagens mit den Worten, er habe nur den Auftrag gehabt, die Lieferung "nach Reyhanli" zu bringen. Das ist ein Grenzübergang zu Syrien.

Güter werden ins Niemandsland geliefert

Gareth Jenkins, ein angesehener Sicherheitsexperte in der Türkei, der die Dokumente auf Wunsch der "Welt" durchsah, war selbst öfter in der Region und berichtet von Gesprächen mit anderen Lastwagenfahrern dort. Diese lieferten ihre Güter routinemäßig "in ein Niemandsland gleich hinter Reyhanli", wo dann syrische Transporter übernähmen. Insofern klinge die Aussage des Fahrers in den Dokumenten plausibel.

Wer aber sollte die Waffen bekommen? Jenkins hält es für "unwahrscheinlich", dass die Türkei mit solchen Transporten al-Qaida oder andere Terrorgruppen regelmäßig bewaffne. Denkbar sei allerdings ein "einmaliger Deal", etwa als Lösegeld für türkische Staatsbürger in der Gewalt solcher Gruppen.

Für wahrscheinlicher hält er es allerdings, dass die Türkei Turkmenen in Syrien bewaffnen wollte. "Das würde Sinn ergeben." Einerseits wolle sich die Regierung innenpolitisch keinen Vorwürfen aussetzen, sie lasse die ethnischen Verwandten gegenüber vorrückenden Dschihadisten im Stich. "Andererseits würde man solche Hilfe auch nicht publik machen wollen, nicht zuletzt aus Furcht vor Racheaktionen der Extremisten."

Wer trug die Verantwortung für den Anschlag von Reyhanli?

Tatsächlich hatte es 2013 in Reyhanli einen verheerenden Autobombenanschlag gegeben, den die türkische Regierung dem syrischen Diktator Baschar al-Assad anlastete. Weit wahrscheinlicher ist jedoch, dass dafür islamische Extremisten verantwortlich waren, die nach Aussagen vieler ihrer Kämpfer von der Türkei wohlwollend behandelt worden waren, bis Ankara sich dem außenpolitischen Druck beugte und die meist passive Unterstützung reduzierte.

Jenkins weist darauf hin, dass in den Tagen nach der Durchsuchung der Lastwagen im Internet angebliche Aussagen türkischer Insider erschienen waren – nicht jedoch in den Mainstream-Medien, die sich größtenteils an das Berichterstattungsverbot hielten –, wonach die Türkei tatsächlich Waffen liefere, aber an Turkmenen-Dörfer, die von angreifenden Dschihadisten bedroht seien. Bei diesen Äußerungen könne es sich aber natürlich auch um Desinformation gehandelt haben, um einen Versuch, die Waffenlieferung in einem positiven Licht erscheinen zu lassen.

Abgesehen sei es unter Fachleuten grundsätzlich unstrittig, dass die Türkei "Waffen an einige Rebellengruppen geliefert hat, obwohl türkische Unterstützung in erster Linie darin bestand, den Zufluss an Waffen und Kämpfern zu erleichtern, nicht selbst zu liefern".

Die Regierung hat die Ermittler in dem Fall – gegen die nun selbst ermittelt wird – beschuldigt, über fingierte Vorwürfe eine politische Krise provozieren zu wollen. Das sei Teil eines Umsturzversuchs durch eine "parallele Struktur". Damit sind im Regierungsjargon Anhänger des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen gemeint.