Neue Zürcher Zeitung, 19.01.2015

http://www.nzz.ch/international/praesident-erdogan-mischt-sich-in-die-regierung-ein-1.18464215

Türkei wird Präsidialrepublik

Präsident Erdogan mischt sich in die Regierung ein

Inga Rogg, Istanbul

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (rechts) leitet eine Sitzung der Regierung. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (rechts) leitet eine Sitzung der Regierung. (Bild: Reuters)
Erstmals leitet Recep Tayyip Erdogan heute eine Kabinettssitzung. Obwohl dies nicht Aufgabe des Präsidenten ist, will er es künftig regelmässig tun.

Seit bald fünfzehn Jahren hat es dies in der Türkei nicht mehr gegeben: Der Staatspräsident leitet eine Sitzung der Regierung. Erstmals seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten hat Recep Tayyip Erdogan am Montagvormittag eine Kabinettssitzung unter seinem Vorsitz einberufen.

Neue Machtsymbole

Die Türkei ist gemäss der Verfassung ein Staat mit einem parlamentarischen System, mächtigster Mann ist deshalb der Ministerpräsident. Das war auch in der elfjährigen Amtszeit von Erdogan so. Sein Vorgänger im Präsidentenamt, Abdullah Gül, hatte laut türkischen Medienberichten kein einziges Mal eine Regierungssitzung geleitet. Doch seit Erdogan im vergangenen August als erstes Staatsoberhaupt vom Volk gewählt wurde, bläst ein anderer Wind. Erdogan, der die Türkei in eine Präsidialrepublik verwandeln will, zieht immer mehr Macht an sich. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, von Erdogan selbst zu seinem Nachfolger im Amt des Regierungschefs erkoren, spielt nur noch die zweite Geige.

Das wird auch in den Symbolen der Macht deutlich. Erdogan hat kurzerhand den als Sitz des Regierungschefs geplanten – und gegen richterliche Entscheidung gebauten – Palast zum Sitz des Präsidenten erklärt. Mehr als 1100 Zimmer hat der Palast, der über eine halbe Milliarde Franken gekostet haben soll. Demnächst soll der Palast in eine «Külliye» umgewandelt werden, wie türkische Medien berichteten. Eine «Külliye» war im Osmanischen Reich ein Komplex von Gebäuden rund um eine Moschee, finanziert von einem frommen Stifter.

Verstoss gegen die Verfassung?

Eine Palastgarde gibt es bereits. Erdogan empfängt Staatsgäste neuerdings mit einer Garde in historischen Rüstungen, die mit Speeren, Säbeln, Hellebarden und Schilden bewehrt ist. Sie sollen die sechzehn Reiche repräsentieren, die Türken im Laufe der Geschichte von den Hunnen bis zu den Osmanen angeblich gegründet hatten.

«Wenn Erdogan im Stil eines Sultans Kabinettssitzungen abhält, sollte sich Davutoglu wie ein Wesir kleiden», sagte vor wenigen Tagen Engin Altay, Abgeordneter der grössten Oppositionspartei. Die Opposition wirft Erdogan vor, gegen die Verfassung zu verstossen. Diese erlaubt es dem Präsidenten zwar, Regierungssitzungen einzuberufen. Das gelte jedoch nur im äussersten Notfall wie in Zeiten des Kriegs oder der Ausrufung des Ausnahmezustands. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur haben in den letzten 92 Jahren Präsidenten nur 17 Mal von diesem Recht Gebrauch gemacht, das letzte Mal Süleyman Demirel 1993. Sieben Jahre später leitete Demirel noch einmal eine Regierungssitzung, allerdings tat er dies auf ausdrückliche Einladung des damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit.