welt.de, 20.01.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article136573337/Machthungriger-Erdogan-errichtet-Staat-im-Staate.html

Türkischer Präsident

Machthungriger Erdogan errichtet Staat im Staate

Der Präsident kontrolliert alles, was in der Türkei von Belang ist. Formal hat Erdogan dazu kein Recht. Er schafft trotzdem neue Strukturen. Er will alles sehen, wird alles sehen, hat Leute überall. Von Boris Kálnoky

Es war eine meisterhafte Inszenierung herrschaftlicher Macht, als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Montag erstmals einer Kabinettssitzung vorsaß. In seinem kaiserlich anmutenden neuen Präsidentenpalast hielt Erdogan nicht nur das gesamte Kabinett über acht Stunden lang fest, sondern hatte der Deutlichkeit halber auch noch die Spitzen der Gendarmerie und des Geheimdienstes dazugebeten. Ein offensichtliches Zeichen an Regierungschef Ahmet Davutoglu, denn den relegierte er damit weithin sichtbar in die politische Bedeutungslosigkeit.

Der eiserne Griff des Herrschers der Türkei dürfte an allen Kehlen spürbar geworden sein, denn Erdogan erläuterte ihnen genau, wie er in Zukunft zwischen ihnen und ihm selbst Harmonie sicherstellen wolle. Denn daran, so gab er zu verstehen, mangele es bislang.

Der Präsident, der oft gegen parallele Strukturen im Staat wütet, womit er Seilschaften der Gülen (Link: http://www.welt.de/themen/fethullah-guelen/) -Bewegung meint, baut selbst eine parallele Struktur auf, einen Staat im Staat. In seinem riesigen neuen Palast werden De-facto-Ministerien mit umfangreichem Personal die Arbeit der nominellen Minister haarklein verfolgen. Die Minister selbst verstanden genau, als sie unter Erdogans Blick versammelt beisammensaßen: Er will alles sehen, wird alles sehen, hat seine Leute überall und wird auch ins Tagesgeschäft des Regierens eingreifen.

Auch konkrete Ereignisse um diese historische Kabinettssitzung herum waren geeignet, den Anwesenden eine tiefe Wahrheit über die Macht ihres Präsidenten zu verdeutlichen. Die Polizei führte am Tag nach der Sitzung eine massive Aktion gegen Erdogan-Gegner durch, die verdächtigt werden, hochrangige Politiker und Geschäftsleute und ihn selbst abgehört zu haben.

Die Polizei nahm einem staatlichen Medienbericht zufolge rund 20 Personen wegen des Verdachts auf illegale Abhöraktionen gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) und andere ranghohe Beamte fest. Sie würden verdächtigt, Telefone angezapft zu haben, auch verschlüsselte, die von Regierungsbeamten benutzt worden seien. Ab Dezember 2013 war es zu Ermittlungen gegen einen inneren Zirkel um Erdogan wegen Korruptionsverdacht gekommen, gleichzeitig wurden im Internet Telefonmitschnitte veröffentlicht, die die Vorwürfe zu belegen schienen.

Ebenfalls am Dienstag, einen Tag nach der Sitzung, wurde im türkischen Parlament darüber abgestimmt, ob vier Ex-Minister, die von den Vorwürfen am schwersten betroffen waren, vor Gericht sollen. Zuvor hatte Erdogan die Justiz und die Polizei massiv säubern lassen, alle Verfahren in der Sache waren eingestellt worden, und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, von der Regierungspartei AKP dominiert, hatte bereits empfohlen, die vier Freunde nicht zu belangen. Die Abstimmung im ebenfalls von der AKP beherrschten Parlament war die letzte Möglichkeit, den Vorwürfen nachzugehen.

Die Botschaft war klar: Sich gegen Erdogan zu stellen ist politischer Selbstmord. Unter seiner schützenden Hand hingegen braucht niemand etwas zu fürchten, egal, was er begeht. Ein harmloser Witz über Erdogan kann bereits das Ende bringen. Eben trat ein Universitätsrektor zurück, weil er zu Erdogans neuer Ehrengarde (Link: http://www.welt.de/136349849) – Krieger in Uniformen der angeblich 16 historischen Türken-Reiche – Folgendes getwittert hatte: "Welches Fürstentum ist das mit dem Bademantel?" Dazu ein Bild des karnevalesken Aufzugs mit eingefügtem Hinweispfeil auf einen Krieger, dessen Bekleidung tatsächlich wie ein hochmodischer Design-Bademantel aussah. Die Folge waren massive Todesdrohungen von offenbar organisierten AKP-Anhängern in den sozialen Medien.

Das ist das Rezept der informellen Macht Erdogans, der sich notfalls nicht um geltendes Recht kümmert. Davon zeugt selbst sein Palast, der trotz eines gerichtlich verfügten Baustopps vollendet wurde.

Seine Macht ist aber nicht absolut, und auf dem Papier hat er fast keine mehr. Als Staatspräsident muss er die formale Exekutivgewalt dem Regierungschef überlassen. Gerade deswegen hat er sich seinen Nachfolger als Partei- und Regierungschef im vergangenen Jahr sorgfältig ausgesucht: Ahmet Davutoglu (Link: http://www.welt.de/themen/ahmet-davutoglu/) ist ein Akademiker ohne parteipolitischen Killerinstinkt oder eigene Basis. Einstmals in seiner Zeit als Außenminister als einflussreich gehandelt, wirkt Davutoglu im Ministerpräsidentenamt wie einer, auf den andere Einfluss ausüben. Seine Rhetorik ist dafür ein Beispiel: Früher verbreitete Davutoglu doktoral anmutende Ausführungen zu Gott und der Welt, heute nennt er Regierungskritiker Verräter und droht, die Ehre des Propheten verteidigen zu wollen, wenn Medien "Charlie Hebdo" (Link: http://www.welt.de/themen/charlie%20hebdo/) -Zeichnungen nachdrucken. Man meint, Erdogan aus diesen Formulierungen herauszuhören.

Immerhin hat Davutoglu aber potenzielle Macht, und er scheint sie – trotz seines unterwürfigen Gebarens – auch gegen Erdogan nutzen zu wollen. Zumindest schien dieser es so zu sehen, als er kürzlich AKP-Führer zu sich rief und klagte, ein von Davutoglu eingebrachtes Transparenzpaket sei eine schlechte Sache. Transparenz ist nur für Erdogans informelle Macht schlecht. Für Davutoglu, der als persönlich nicht korrupt gilt, ist sie gut.

In Zukunft wird er wohl schon in der Planungsphase solcher Gesetzesinitiativen von der Parallelregierung im Präsidentenpalast die rote Flagge gezeigt bekommen. Man kann durchaus Vergleiche ziehen mit der Zeit der Gängelung der türkischen Politik durch das Militär: Der Nationale Sicherheitsrat war da die Instanz, die der gewählten Regierung von Zeit zu Zeit den Weg wies. Immerhin: Erdogan wurde als Präsident vom Volk direkt gewählt (Link: http://www.welt.de/130756086) , die Sache ist also etwas demokratischer als die Militärvormundschaft vergangener Zeiten.

Der Staatschef ist der Meinung, dass das Volk ihm ein Mandat gegeben hat, direkt zu regieren. Insofern will er gar nicht um die Ecke herum Einfluss nehmen, sondern lieber eine ganz neue, präsidiale Verfassung. Voraussetzung dafür ist ein großer Sieg bei den anstehenden Parlamentswahlen und eine verfassunggebende Mehrheit für die AKP. Es ist nicht sicher, dass das gelingen kann. Die neuen AKP-Abgeordneten müssen zudem aus Erdogan-Loyalisten bestehen. Da wird Davutoglu auch noch ein Wörtchen mitreden wollen. Immerhin ist er formal Parteichef.

Keineswegs sicher also, dass Erdogan seine Präsidialverfassung bekommen wird. Deswegen baut er bereits jetzt ein System auf, mit dem er auch ohne eine solche das Land regieren kann.