Süddeutsche Zeitung, 23.01.2015

Pressefreiheit

Der "Charlie"-Test der Türkei

Der Streit um die Mohammed-Karikaturen zeigt, wie schlecht es um die Pressefreiheit in der Türkei steht. Der Ausgang des Konflikts könnte ihr Ende besiegeln - in einem der letzten muslimischen Länder, in denen es sie, mit Einschränkungen, gibt.

Von Cengiz Aktar

Gérard Briard hat recht. "Das ist ein schwieriger Moment für die Türkei", sagte der neue Chefredakteur von Charlie Hebdo, "ein Moment, in dem der Säkularismus angegriffen wird." Briard sieht die türkische Ausgabe des Satiremagazins als die wichtigste unter den vielen, die seit dem Mordanschlag vom 7. Januar auf die Redaktion in Paris weltweit publiziert wurden. Was mit dieser Ausgabe geschah, sagt viel über den Stand der Pressefreiheit in der Türkei.

Die Tageszeitung Cumhuriyet, die sich zunächst entschlossen hatte, die 16-seitige Sonderausgabe zu veröffentlichen, kam schließlich am 14. Januar mit nur vier Seiten heraus. Chefredakteur Utku Çakırözer begründete die Entscheidung, nicht alle 16 Seiten zu veröffentlichen, mit dem Ziel, Empfindlichkeiten in einem der homogensten muslimischen Länder des Nahen Ostens zu schonen. Aber selbst die Veröffentlichung der vier Seiten war mutig. Die muslimische Welt wies die neue Ausgabe einmütig zurück - besonders die Titelseite, die den weinenden Propheten Mohammed mit dem Schild "Ich bin Charlie" zeigt.
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Was mit der türkischen Ausgabe des Satiremagazins geschah, sagt viel über den Stand der Pressefreiheit in der Türkei, findet Cengiz Aktar.
(Foto: oh)

Es ist schwer vorauszusagen, wie sich das alles auswirkt in einem Land, in dem der offizielle Säkularismus zunehmend durch die Regierung und ihre Verbündeten bedroht wird. An dem Tag, an dem Cumhuriyet die vier Seiten veröffentlichte, versammelten sich Demonstranten vor der Zeitung und riefen Parolen wie: "Dies ist die Türkei, nicht Frankreich." Fünf Protestierer wurden festgenommen, weil sie Zeitungen verbrannt hatten, die Polizei schloss die Istiklal-Straße im Zentrum Istanbuls. Proteste flammten auch in anderen Städten auf, einschließlich der Hauptstadt Ankara.

Am Tag der Veröffentlichung durchsuchte die türkische Antiterror-Polizei die Redaktion, hielt Zeitungen fest, die für die Auslieferung bestimmt waren und fotografierte sensible Seiten für den Staatsanwalt in Istanbul, ehe sie die Zeitungslaster wieder freigab. Für die Aktion gab es keinen Durchsuchungsbefehl. 100 000 Exemplare wurden trotzdem gedruckt, doppelt so viel wie normalerweise. Sie waren schnell ausverkauft. Am Morgen danach bekamen Redakteure drohende Anrufe und E-Mails in einem Ausmaß, das das Management veranlasste, um Polizeischutz zu bitten.

Die Demonstranten wurden noch ermutigt durch Äußerungen des stellvertretenden Ministerpräsidenten Yalçin Akdoğan, der nicht etwa zur Ruhe aufrief, sondern die Karikaturen als aufrührerisch und provokativ bezeichnete. Ercan Sezgin, ein Anwalt aus Diyarbakır, reichte Klage ein, um den Staatsanwalt dazu zu bringen, den Verkauf der französischen Originalausgabe von Charlie Hebdo zu verbieten. Der Staatsanwalt seinerseits verbot den Zugang zu Websites, die die erste Seite der Sonderausgabe von Charlie Hebdo veröffentlichten. Cumhuriyet missachtete diese Entscheidung: Zwei ihrer Kolumnisten, Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya, nutzen die Titelseite in ihren Kolumnen. Dagegen entschied der Chefredakteur, in der vierseitigen Sonderausgabe das kontroverse Bild nicht zu veröffentlichen. Ein anderes Online-Portal, T24, veröffentlichte die ganze 16-Seiten-Ausgabe auf Türkisch.

Am Donnerstag eröffnete ein Staatsanwalt Ermittlungen wegen des Verstoßes gegen Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuches, der das Anstacheln zum Hass unter Strafe stellt. Dieser Paragraf ist noch nie benutzt worden, wenn Pro-Regierungs-Medien Nicht-Muslime angreifen. Die Ermittlungen richteten sich gegen zwei Kolumnisten und Cumhuriyet insgesamt, weil sie die Cartoons veröffentlicht hatten, nachdem Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu harsch erklärt hatte, dass Cartoons, die den Propheten darstellen, in der Türkei nicht erlaubt würden.

Nach dem Freitagsgebet richtete eine andere Gruppe in Istanbuls Fatih-Moschee offene Drohungen gegen die Verleger, indem sie sich auf Ihr Recht auf Vergeltung berief und skandierte: "Wir sind Saïd Kouachi." Schließlich qualifizierte Präsident Erdoğan Carlie Hebdo als eine Publikation, die Hass verbreitet.
Ignorieren oder nicht kaufen

Viele Bürger der Türkei unterstützten, dank einer langen Tradition der Meinungsfreiheit, jene Medien, die es gewagt hatten, die Karikaturen zu veröffentlichen. Jenen, die sich verletzt fühlten, rieten sie, die Cartoons entweder zu ignorieren oder sie nicht zu kaufen - ganz im Sinne von Charb, dem ermordeten Chefredakteur von Charlie Hebdo, der genau dies jenen gesagt hatte, die das Magazin nicht mögen: Ignorieren oder nicht kaufen.

Jetzt tobt ein erbitterter Streit zwischen denen, die sich selbst "Charlie" nennen, und deren unversöhnlichen Gegnern. Die Ersteren berufen sich auf ein weltliches Prinzip der menschlichen Freiheit, die anderen verwerfen dieses im Namen eines himmlischen Glaubens. Tatsächlich hat diese Debatte schon 2006 nach der Veröffentlichung der ersten Cartoons in der dänischen Jyllands-Posten begonnen. Die türkische Botschafterin in Kopenhagen brachte auf Anweisung aus Ankara ihre muslimischen Kollegen dazu, bei der dänischen Regierung gegen die Karikaturen zu protestieren. Es war der erste derartige Fall in der Geschichte der türkischen Diplomatie; zuvor hatte das Land sich nie an religiös motivierten Protesten beteiligt. Als danach etliche Zeitungen in einem Akt der Solidarität die dänischen Karikaturen nachdruckten - darunter war auch Charlie Hebdo -, reagierte die Türkei immer offiziell und behauptete, die Veröffentlichung der Cartoons beleidige Muslime. Die Empörung über Dänemark ging noch weiter: Im Jahr 2009 versuchte die Türkei vergeblich , die Kandidatur des damaligen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen für das Amt des Nato-Generalsekretärs zu verhindern.

Am Donnerstag voriger Woche verabschiedete das Europarlament fast einstimmig eine Resolution, in welcher der erschreckende Stand der Pressefreiheit in der Türkei beklagt wird. Gelegentlich den Zugang zu Twitter und Youtube zu stoppen, Journalisten und Redaktionsleiter unter Druck zu setzen, die Entlassung führender Kolumnisten zu verlangen und Journalisten ins Gefängnis zu werfen - all das ist während der vergangenen Jahre gängige Praxis geworden. In der Rangliste des Freedom House für die Pressefreiheit wurde die Türkei auf den Status "nicht frei" herabgestuft und steht jetzt auf Platz 134 unter 197 Ländern. Auf der Liste von "Reporter ohne Grenzen" rangiert das Land auf Platz 154 - hinter Afghanistan und Iran.

Es lohnt sich, den "Charlie"-Test genau zu beobachten. Sein Ausgang könnte das Ende der ohnehin schon angeschlagenen Pressefreiheit besiegeln in einem der letzten muslimischen Länder, in denen es sie, mit Einschränkungen, gab.

Zur Person

Cengiz Aktar, 59, ist Professor für Politische Wissenschaften am Istanbul Policy Center und Kolumnist für die von Journalisten gegründete Website T24. Außerdem arbeitete er für die UN und die EU.

URL: http://www.sueddeutsche.de/meinung/pressefreiheit-der-charlie-test-der-tuerkei-1.2316016