Neue Zürcher Zeitung, 29.01.2015

http://argumente.blog.nzz.ch/2015/01/29/der-druck-auf-die-akp-regierung-ihre-kurdenpolitik-anzupassen-waechst/

Der Druck auf die AKP-Regierung, ihre Kurdenpolitik anzupassen, wächst

Von Gastautor

KobaneDer Druck auf die AKP-Regierung in Ankara, ihre Kurdenpolitik anzupassen, wächst. Die Gründe dafür liegen im Bürgerkrieg in Syrien, im Vormarsch des IS und im kurdischen Widerstand gegen den IS – insbesondere in Kobane.

Ein Gastbeitrag von Gülistan Gürbey

Unter den Augen der Weltöffentlichkeit findet der erbitterte Kampf der Kurden gegen die radikalislamistische Terrormiliz IS (Islamischer Staat) im Irak und in Syrien statt. Die seit September 2014 andauernden heftigen Kämpfe der Kurden gegen die Offensive der Islamisten in der syrisch-kurdischen Kleinstadt Kobane (arabisch Ain al-Arab) an der Grenze zur Türkei stellen in diesem Kontext einen leidvollen Höhepunkt dar. Seit dem 27. Januar 2015 – nach mehr als vier Monaten heftigen Kämpfen – haben die Kurden nunmehr die Stadt Kobane vom IS befreit, während das Umfeld von Kobane weiterhin von diesem beherrscht wird. Unterstützt werden sie dabei mit Luftangriffen der von den USA geführten Anti-IS-Koalition.

Während der kurdische Widerstand gegen den IS den Kurden Bedeutungszuwachs in der Region verschafft, den historischen Konflikt um ihre politische Zukunft zunehmend in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit rückt und die Frage nach ihrer politischen Zukunft erneut aufwirft, ist die Türkei zunehmend unter öffentliche Kritik und Handlungsdruck geraten. Im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik steht zum einen ihre zwielichtige Haltung im Hinblick auf die Terrormiliz IS und zum anderen ihre auf Eindämmung der syrischen Kurden ausgelegte Politik. Als Dreh- und Angelpunkt nimmt Kobane hierbei eine besondere Stellung ein.

Primärziele der türkischen Politik

Die Primärziele, die die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit dem Bürgerkrieg in Syrien und dem Vormarsch des IS verfolgt, sind: der militärische Sturz des Asad-Regimes und die Eindämmung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihres syrischen Ablegers PYD (Demokratische Unionspartei) sowie der von ihr errichteten drei autonomen kurdischen Kantone im Norden und Nordosten Syriens.

Die Strategien der AKP-Regierung, diese Ziele zu erreichen, umfassen im Wesentlichen die gezielte politische und militärische Unterstützung der Freien Syrischen Armee und der islamistischen Kräfte – dazu gehört auch der IS – sowie die Forderung nach einer militärisch abgesicherten Flugverbots- und Sicherheitszone jenseits der Grenze zu Syrien. Aus türkischer Sicht hätte dies den Vorteil, die Flüchtlinge auf syrischem Boden unterbringen zu können und gleichzeitig die kurdischen Kantone zu unterhöhlen und die Kontrolle über die PKK bzw. PYD zu erlangen.

Was die zwielichtige Rolle der Türkei als wichtigstes Transit- und Zielland sowie Nachschub- und Rückzugsgebiet im Kampf gegen den IS angeht, so streitet zwar die AKP-Regierung vehement ab, den IS unterstützt zu haben. Doch zahlreiche Berichte belegen die wohlwollende Politik bezüglich des IS. Diese reicht von freizügigen Grenzübertritten über die Behandlung von Verletzten des IS und logistische Hilfe bis hin zu Waffenlieferungen. Ankara bleibt dabei, eine aktive türkische Beteiligung an der Anti-IS-Koalition von einer integrativen Strategie abhängig zu machen, die neben der Bekämpfung des IS auch einen Plan für den Sturz von Asad umfasst. Weil die USA die türkischen Forderungen nach Schutzzonen und nach Verhängung eines Flugverbots über Syrien ablehnen, erlaubt die Türkei im Gegenzug der US-Luftwaffe nicht, die Jihadisten in Syrien und im Irak vom türkischen Stützpunkt Incirlik aus anzugreifen. Beide Seiten sind sich aber einig, dass gemässigte syrische Rebellen in der Türkei ausgebildet und bewaffnet werden sollen.

Implikationen und die kurdenpolitische Strategie von «Eindämmung» und «teile und herrsche»

Die Gründe für die genannten Primärziele der AKP-Regierung haben mit den weitreichenden Auswirkungen des Bürgerkrieges in Syrien und dem Vormarsch des IS auf die Türkei zu tun. Dabei sind nicht nur wirtschaftliche Interessen, eine erhöhte Verletzlichkeit durch die direkte Nachbarschaft, die Bewältigung der Flüchtlingswelle und innenpolitische Implikationen von Relevanz. Vor allem geht es um die Beeinträchtigung der politischen Zielsetzung in der Region im Kontext der aussenpolitischen «strategischen Tiefe». Laut dieser soll die Türkei durch die Ausweitung des aussenpolitischen Radius auf den ehemaligen osmanischen Einflussbereich und unter Nutzung der muslimischen Identität zu einer regionalen und globalen Führungsmacht werden.

Denn Syrien hatte eine zentrale Stellung im aussenpolitischen Konzept der «strategischen Tiefe» und galt als das erfolgreiche Vorzeigebeispiel der «Null-Problem-Politik» mit den Nachbarländern. Zum einen diente Syrien als ein Sprungbrett auf dem Weg, eine regionale Führungsmacht zu werden. In wirtschaftlicher Hinsicht war Syrien das Tor zu den lukrativen Märkten Ägyptens, Jordaniens und der Golfstaaten. Daher wurden die Beziehungen mit dem einstigen Feind nach der Machtübernahme der AKP-Regierung signifikant ausgebaut, u. a. durch Abkommen zur militärstrategischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Visafreiheit und den Aufbau einer Freihandelszone. Zum anderen konnte durch exponierte Beziehungen mit Syrien die strategische Rivalität mit Iran in Schach gehalten, die Unterstützung für die PKK unterbunden und die Kontrolle über die regionale Dimension der Kurdenfrage gewährleistet werden. Der syrische Bürgerkrieg führte jedoch abrupt zu einer Verwerfung der «Null-Problem-Strategie» und führte beide Partner in die Konfrontation.

Nicht nur die aussenpolitische Ambition der Türkei, eine Führungsmacht zu werden, geriet ins Wanken. Der syrische Bürgerkrieg bewirkte zugleich eine zunehmende regionale Ausweitung des internen Kurdenkonfliktes, da vor allem die PKK und ihr syrischer Ableger PYD an regionaler Manövrierfähigkeit hinzugewannen. Umgekehrt geriet die AKP-Regierung unter zunehmenden Druck, in der Kurdenfrage zu handeln. Denn sie befürchtet, dass im Norden Syriens eine von der PKK bzw. PYD kontrollierte zweite kurdische Autonomiezone wie im Norden Iraks entstehen könnte und diese Entwicklung die Kurden in der Türkei beeinflussen und auf die Türkei überschwappen könnte. Die PYD errichtete drei autonome Kantone im Norden und Nordosten Syriens, nachdem sich die Truppen des Asad-Regimes im Juli 2012 zurückgezogen hatten. Seither betreibt die PYD dort systematisch den Aufbau lokaler Selbstverwaltungs- und Ordnungsstrukturen. Die autonomen Kantone Afrin, Cezire und Kobane bilden im kurdischen Sprachgebrauch das syrisch-kurdische Autonomiegebiet Rojava (Westkurdistan). Nicht zuletzt bringt das gemeinsame Bündnis der PKK, PYD und der kurdisch-irakischen Peschmerga im Kampf gegen den IS im Irak und im syrisch-kurdischen Kanton Kobane zunehmend internationale Aufmerksamkeit und trägt zur Steigerung der Reputation von PKK und PYD bei. Dies wiederum liegt nicht im Interesse Ankaras.

Daher ist die Eindämmung der PKK bzw. PYD mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln von vitaler Bedeutung und nimmt einen prominenten Platz in der türkischen Strategie ein. Dazu gehören zum einen die seit 2012 laufenden Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan und der PKK, die Teil der Eindämmungsstrategie sind und im regionalen Kontext zu sehen sind.

Die Schlacht um Kobane steht hierfür symbolisch: Sie stellt einen Höhepunkt in der machtpolitischen Auseinandersetzung dar, da es der PKK bzw. PYD erstmals gelungen ist, die historische Chance zu ergreifen und ihr politisches Gesellschaftsmodell einer «Demokratischen Autonomie» in Syrisch-Kurdistan umzusetzen. Aus ihrer Sicht sind die drei autonomen Kantone daher historische Errungenschaften von existenzieller Bedeutung, die es um jeden Preis zu schützen gilt. Zum anderen versucht die AKP-Regierung durch die Einflussnahme auf die irakisch-kurdische Regionalregierung und insbesondere auf die von Masud Barzani geführte KDP (Demokratische Partei Kurdistans) die PKK zu marginalisieren. So erlaubte die AKP-Regierung, dass kurdische Peschmerga Ende Oktober 2014 über türkisches Territorium nach Kobane zur Verteidigung der Stadt gelangen, nachdem aufgrund der Zunahme der Solidarisierung mit dem kurdischen Widerstand in Kobane auch der Druck auf die Regierung signifikant anstiegen war. Dieser Schritt wiederum stand in Einklang mit der kurdenpolitischen Strategie «teile und herrsche», konkret über die irakischen Kurden die PKK bzw. PYD einzudämmen.

Kooperation anstatt Eindämmung

Fazit: Der Bürgerkrieg in Syrien, der Vormarsch des IS und der kurdische Widerstand gegen den IS – insbesondere in Kobane – haben den internen und externen Anpassungsdruck auf die AKP-Regierung in der Kurdenfrage signifikant erhöht. Die wesentlichen Ursachen sind: erstens, eine zunehmende Ausweitung des internen Kurdenkonfliktes und des PKK-Problems auf die gesamte Region. Kobane steht symptomatisch für diese Entwicklung. Denn Kobane hat zum einen die Interdependenz zwischen der Türkei-internen und der regionalen Dimension des Kurdenkonfliktes und der PKK-Frage deutlich sichtbar gemacht und gezeigt, dass die Zukunft des Friedensprozesses mit der PKK eng mit der türkischen Kobane-Politik zusammenhängt. Zum anderen hat Kobane innerkurdisch bewirkt, dass die Kurden über politische Differenzen und Parteigrenzen hinweg stärker zusammengerückt sind. Allerdings bleibt abzuwarten, ob dieser innerkurdische Kooperationsprozess von Dauer sein wird.

Zweitens gibt es einen Entwicklungsprozess, der einen Bedeutungszuwachs der Kurden als strategischer Faktor in der regionalen und internationalen Politik in Gang gesetzt hat und auch die Rolle und Bedeutung der PKK bzw. PYD im Kampf gegen den IS tangiert. Gleichwohl impliziert der Bedeutungszuwachs, dass im Hinblick auf die politische Zukunft der Kurden sowohl Türkei-intern als auch regional weitergehende Autonomieregelungen erforderlich sein werden.

Drittens existiert für die Türkei zusätzlich ein durch Zielkonflikte mit den Partnern (allen voran den USA) gesteigerter Handlungsdruck.
Die AKP-Regierung hat die Chance, anstatt durch «Eindämmung» und das «Teile und herrsche»-Prinzip mit einem kooperativen Ansatz erfolgreich auf den gestiegenen internen und externen kurdenpolitischen Druck zu reagieren. Dies setzt voraus, an die historisch gewachsenen und im Zuge der gegenwärtigen Entwicklungen gestiegenen kurdischen Anforderungen nach Autonomie anzuknüpfen und weitergehende autonome oder föderale Konfliktlösungsformen unter Einbeziehung der PKK sowohl intern als auch regional in Erwägung zu ziehen. Doch davon ist die AKP-Regierung noch weit entfernt.

ÜBER DIE AUTORIN:
Gülistan Gürbey ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin.