Der Bund, 09.02.2015

http://www.derbund.ch/bern/stadt/Warum-hast-du-uns-allein-gelassen/story/28371470

«Warum hast du uns allein gelassen?»

Die Kurdin Elif Demirtok marschiert für Öcalan von Bern nach Strassburg. Bis heute belasten sie die Vorwürfe ihrer Kinder.

Auf die Frage, woher sie ursprünglich stamme, antwortet sie ohne Zögern: «Aus Kurdistan.» Seit über 30 Jahren lebt Elif Demirtok aber in der Schweiz. Die 55-jährige kleine Frau trägt die dunklen Haare schlicht zusammengebunden, ein sanftes Lächeln umspielt ihr Gesicht. Aufgewachsen ist Demirtok in der türkischen Kleinstadt Pazarcik, in der Nähe der Stadt Kahramanmaraş im Süden des Landes. Sie bezeichne sich erst als Kurdin, seit sie 1983 in die Schweiz geflüchtet sei, sagt sie. Früher habe sie gesagt, sie sei Türkin, denn sich als Kurdin zu bezeichnen, sei verboten gewesen.

Zu Hause und auf der Strasse kurdisch gesprochen

In Pazarcik lebten etwa gleich viele Kurden wie Türken friedlich zusammen, sagt Demirtok. Ihrer Familie ging es gut, und sie hatte gar das Privileg, als Mädchen die Schule zu besuchen. So erlernte sie im Gegensatz etwa zu ihrer Mutter auch die türkische Sprache. «Zu Hause und auf der Strasse haben wir aber Kurdisch gesprochen», sagt sie. Ihr Vater arbeitete als Zimmermann, der Wohlstand der Familie hing zudem mit den Auslandaufenthalten in Deutschland zusammen. Viele Familienmitglieder und Bewohner der Kleinstadt seien als Arbeitskräfte nach Deutschland gegangen, zwischen Deutschland und der Türkei gab es in den 1960er-Jahren ein Anwerbeabkommen für Gastarbeiter.

Auch sie selber ging nach Deutschland, nachdem sie mit 14 Jahren geheiratet hatte. Als 16-Jährige gebar sie ihr erstes Kind, und ein paar Jahre später kehrte die kleine Familie in die Türkei zurück. Doch etwas hatte sich geändert. Es gab Spannungen zwischen nationalistischen Türken und Alewiten, einer Glaubensgemeinschaft, der auch Demirtok angehört. Die Unruhen gipfelten im Massaker von Kahramanmaraş Ende 1978, bei dem über Hundert Menschen getötet wurden. «Nach dem Massaker habe ich gemerkt, dass es um religiöse und ethnische Zugehörigkeit geht», sagt sie. Gleichzeitig kam sie in Kontakt mit Sympathisanten der kurdischen Arbeiterpartei PKK. «In dieser Zeit entwickelte sich ein kurdisches Bewusstsein», sagt sie.

Schlechter Ruf wegen Sympathien für die PKK

Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele PKK-Mitglieder verhaftet. Auch ihre Familie habe wegen der Sympathien für die PKK einen immer schlechteren Ruf bekommen. Als ihr Schwager von den Sicherheitskräften gesucht wurde und auch ihrem Mann die Verhaftung drohte, floh sie in die Schweiz. Fünf Monate nach ihrem Mann sei sie in die Schweiz eingereist, ihre mittlerweile zwei Kinder habe sie in der Türkei zurückgelassen – für fünf Jahre. Demirtok fällt es schwer, darüber zu sprechen. Noch heute, sagt sie, machten die Kinder ihr deswegen Vorwürfe. «Warum hast du uns allein gelassen?» Auf den Nachzug der Kinder habe sie warten müssen, bis ein positiver Asylentscheid vorgelegen sei.

Elif Demirtok liess sich längst einbürgern und besitzt den Schweizer Pass. Trotzdem ist die Frage nach einem Kurdistan für sie wichtig geblieben. Deshalb marschiert sie in diesen Tagen mit über hundert anderen Frauen in knapp zehn Tagen von Bern nach Strassburg. Die Hauptforderung des Protestmarsches ist die Anerkennung des Status des kurdischen Volks. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie und ihre Mitstreiterinnen dem in der Türkei inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan nahestehen.

«Ich habe von dieser Entwicklung profitiert»

Die Kurdenfrage ist mit der Krise in Syrien und dem Einfall des Islamischen Staates (IS) in Syrien und Irak aktueller geworden. Seit dem Angriff auf die Jesiden im Sinjar-Gebiet und auf Kobane interessierten sich die Leute mehr für die Kurden, sagt Demirtok. «Ich habe von dieser Entwicklung profitiert.» Plötzlich sei vielen Leuten bewusst geworden, dass das kurdische Volk auf vier Staaten aufgeteilt sei, oder dass die Kurden unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften angehörten.

Vor der Kälte und den rund 300 Kilometern nach Strassburg schreckt Demirtok nicht zurück. «Ich würde auch einen Monat marschieren», sagt sie. In ihrer Vorstellung wäre Kurdistan kein unabhängiges Land, sondern eher eine autonomes Gebiet. Die Schweiz sei dafür ein gutes Vorbild, verschiedene ethnische Gruppen, Religionen und Sprachen lebten hier zusammen. Wenn es eine friedliche Lösung der Kurdenfrage geben würde, würde sie nach Kurdistan zurückkehren. (Der Bund)

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Protestmarsch

Öcalan vor 16 Jahren verhaftet

Um die Öffentlichkeit und die Institutionen Europas auf die Kurdenfrage aufmerksam zu machen, finden in diesen Tagen mehrere Protestmärsche statt.

Während der Demonstrationszug von Bern nach Strassburg von der Frauenfreiheitsbewegung Kurdistans organisiert wurde, marschieren andere Kurdenverbände von Frankfurt und von Luxemburg nach Strassburg. Dort wollen sie ihren Protest mit einer gemeinsamen Erklärung beenden.

Die Hauptforderungen lauten: Freiheit für Abdullah Öcalan und Freiheit für Kurdistan. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Protestmärsche am 15. Februar in Strassburg enden. An diesem Datum vor 16 Jahren wurde der Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaftet, seither ist er auf der Gefängnisinsel Imrali. Nebst den Hauptforderungen wollen die Demonstrationszüge auf das Leid der Menschen in Kobani und Sinjar aufmerksam machen, die vom Islamischen Staat (IS) angegriffen wurden.

Eine weitere Forderung besteht darin, die PKK von der Terrorliste zu streichen. Seit PKK-Ableger den IS bekämpfen, wird die Einstufung der verbotenen Arbeiterpartei als Terrororganisation diskutiert.(ba)