Die Presse, 11.02.2015 Nordirak: „Die Moral der IS-Extremisten ist gebrochen“ Vor Mosul gehen kurdische und irakische Truppen in Stellung. Gerüchte über eine bevorstehende Großoffensive gegen die IS-Hochburg kursieren. Die Peschmerga unmittelbar vor Mosul führt der Veteran Hamid Effendi – Jahrgang 1932. Aus dem Nordirak berichtet WIELAND SCHNEIDER (Die Presse) „Sie haben immer wieder angegriffen und versucht, uns zurückzudrängen“, erzählt Ato Zibari mit ernster Miene. Dann nippt der Peschmerga-Kommandant an seinem Tee und lächelt: „Aber sie hatten keinen Erfolg.“ Ato Zibari lässt seinen Finger über die Landkarte gleiten, die an der Wand seines Büros hängt – gleich neben einem großen Bild von Masud Barzani, dem Präsidenten der nordirakischen Kurdenregion. „Wir haben zuletzt diese Positionen eingenommen“, schildert Zibari und zeigt auf die Gebiete, aus denen kurdische Kämpfer die Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS) vertrieben haben. „Wir rücken immer näher an Mosul heran.“ Auf dem Platz vor Ato Zibaris Büro stehen Humvee-Geländefahrzeuge mit aufgepflanzten MG. Hier, etwa 50 Kilometer von der Kurdenregion-Hauptstadt Erbil entfernt, beginnt das militärische Sperrgebiet. Ato Zibari ist einer der Kommandanten der Front vor Mosul. Die kurdischen Einheiten kämpften sich zuletzt immer näher an die nordirakische Metropole heran, die im Sommer in die Hand des IS gefallen war. Und auch Iraks Regierungstruppen sind hier weiter vorgerückt. Nordwestlich der IS-Hochburg tobten heftige Gefechte. Seit Tagen kursieren Gerüchte von einer bevorstehenden Großoffensive auf Mosul – eine Operation, die von kurdischen Peschmerga und irakischen Truppen mit internationaler Luftunterstützung durchgeführt werden soll. Die fast drei Mio. Einwohner zählende Stadt ist von großer strategischer Bedeutung. Sollte der IS aus Mosul vertrieben werden, würde er der Basis für seine Aktionen im Nordirak beraubt. Und das IS-„Kalifat“ würde seine einzige Großstadt verlieren. Doch noch ist es nicht so weit.
Und die Kurden sind skeptisch, ob Mosul rasch eingenommen werden könnte.
Ein Teil der sunnitisch-arabischen Bevölkerung Mosuls kooperiert mit dem
IS – aus Wut darüber, lange von der schiitisch geprägten Regierung in
Bagdad vernachlässigt worden zu sein. Kurdische Regierungsvertreter beteuern,
die Peschmerga sollten bei einem Einmarsch in Mosul nicht die Hauptrolle
spielen, sondern nur der irakischen Armee assistieren – aus Sorge, die
arabischen Bewohner der Stadt könnten kurdische Kräfte als Invasoren ansehen. Nach einigen Minuten Fahrt ist das Dorf Hassan al-Sham erreicht. Es ist menschenleer. Viele der Häuser sind zerstört. Das arabische Dorf war einst eine Hochburg der Baath-Partei des 2003 gestürzten Diktators Saddam Hussein. Als der IS vorrückte, liefen viele Baath-Anhänger zu den Jihadisten über. Jetzt sind sie geflohen. Über neu angelegte Erdstraßen geht es weiter hinein ins militärische Sperrgebiet, vorbei an Hügelketten, in die Kurden ihre Stellungen gebaut haben. Nach etwa 40 Minuten Fahrt ist das Hauptquartier von Sektor 7,2 erreicht. Die vordersten Positionen des Sektors liegen nur etwa 15 Kilometer von Mosul entfernt. „Die IS-Extremisten werfen alles, was sie haben, gegen uns in die Schlacht. Aber ihre Moral ist gebrochen, und sie haben Angst“, sagt Hamid Effendi. Der Peschmerga-Veteran kommandiert den Sektor unmittelbar vor den Toren Mosuls. Hamid Effendi hat große Erfahrung im Kämpfen. Er diente schon unter dem legendären Kurdenführer Mustafa Barzani, dem Vater des heutigen Präsidenten, nahm am großen Kurdenaufstand 1961 teil und an den Kämpfen gegen Saddam Husseins Truppen. Später war er Peschmerga-Minister, bis er 2006 in Pension ging. Jetzt ist Hamid Effendi zurück an der Front – so wie viele alte Kommandanten, die nach dem IS-Großangriff auf die Kurdengebiete wieder mobilisiert wurden. „Es ist wichtig für die Moral der jüngeren Kämpfer, dass die erfahrenen Peschmerga hier sind“, sagt Ferhang Effendi, Sohn des Kommandanten von Sektor 7,2. Ferhang hat lange in Kanada gelebt. Jetzt ist er wieder in Kurdistan, um an der Seite seines Vaters zu kämpfen. Wann ist sein Vater eigentlich geboren? Ferhang zögert. „Erzähl es doch einfach. Es war 1932“, ruft Hamid Effendi. „Aber verrate es ja nicht deiner Mutter“, fügt der alte Peschmerga hinzu. Im Kommandantenzelt bricht lautes Gelächter aus. Hamid Effendi hat heute viele Gäste. Veteranen wie Ahmed Brifkani und Shukry Nerwyi sind hier, um ihren früheren Kameraden an der Front zu besuchen. Sie trinken Tee und erzählen Anekdoten aus der Zeit, in der sie Saddams Armee gegenübergestanden sind. Wodurch unterscheidet sich der Kampf gegen den IS vom Krieg von damals? „Damals haben wir schnelle Angriffe durchgeführt und uns rasch wieder in die Berge zurückgezogen“, erzählt Hamid Effendi. „Gegen den IS müssen wir aber erstmals eine lange Frontlinie verteidigen.“ Auf der freien Fläche vor Effendis Kommandozelt steht ein alter russischer Kampfpanzer. Kurdische Kämpfer reinigen das abmontierte MG des Kettenfahrzeuges. Die Zeit des Guerillakriegs ist vorbei. Heute müssen sie einen konventionellen Landkrieg führen – mit altem Gerät, aber mittlerweile auch mit Waffen aus dem Westen. „Die Panzerabwehrlenkwaffe Milan war bisher sehr effektiv“, sagt Roj Nouri Shawys. Der irakische Vizepremier und Peschmerga-Veteran ist für die gesamte Front östlich von Mosul verantwortlich. „Wir brauchen aber noch mehr und bessere Waffen. Wir Kurden sind die verlässlichsten Verbündeten des Westens. Es wird Zeit, dass wir richtig unterstützt werden.“ ("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2015)
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