junge Welt, 19.02.2015

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Prügelei im Parlament

Türkei: AKP-Abgeordnete schlagen Oppositionsvertreter bei Debatte um neue Sicherheitsgesetze krankenhausreif

Von Nick Brauns

Bei der Debatte um neue Sicherheitsgesetze ist es in der Nacht zum Mittwoch im türkischen Parlament zu einer Prügelei unter den Abgeordneten gekommen. Dabei wurden fünf Abgeordnete der kemalistischen, sozialistischen und pro-kurdischen Oppositionsparteien von Abgeordneten der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zum Teil so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten. Die Opposition hatte angekündigt, mit allen ihr zustehenden parlamentarischen Mitteln die Verabschiedung des Gesetzes – durch das die Türkei ihrer Meinung nach zu einem Polizeistaat und das Demonstrationsrecht faktisch abgeschafft würde – zu verhindern. Dazu wurden Hunderte Änderungsanträge zu den 132 Gesetzesartikeln eingebracht. Zudem beharrt die Opposition darauf, den vollständigen – 130 Wörter umfassenden – Namen des Gesetzes bei jedem dieser Anträge zu verlesen. Die Debatte um jeden einzelnen Änderungsantrag würde damit mindestens 15 Minuten betragen.

Nachdem Presse und Öffentlichkeit von der Sitzung ausgeschlossen und die Übertragungskameras abgeschaltet worden waren, eskalierten in den frühen Morgenstunden des Mittwoch die zuvor nur verbal ausgetragenen Spannungen. Die gewaltsame Auseinandersetzung sei ausgebrochen, nachdem mehrere AKP-Abgeordnete auf eine Abgeordnete der linken kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) losgingen, berichtete der ebenfalls in die Prügelei verwickelte Abgeordnete der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) Mahmut Tanal gegenüber der Presse von bislang noch nie im Parlament gesehenen »Szenen eines Faustkampes«. Die AKP-Abgeordneten hätten die Mandatsträger der Opposition mit dem Hammer und der Glocke des Parlamentspräsidenten angegriffen und mit Metallstühlen geschlagen, erklärte der dabei am Kopf verletzte HDP-Abgeordnete Ertugrul Kürkcü, der sich schützend vor seine attackierte Genossin Sebahat Tuncel gestellt hatte, der Zeitung Hürriyet. »Die AKP-Abgeordneten haben einen Vorgeschmack dessen geliefert, wozu sie die Polizeikräfte einzusetzen gedenken, wenn sie es schaffen sollten, dieses Gesetz durchzubringen«, kommentierte der 67jährige Sozialist und ehemalige Guerillaaktivist Kürkcü das Vorgehen der Regierungspartei. Die Parlamentssitzung wurde trotz der Auseinandersetzungen hinter verschlossenen Türen fortgesetzt.

Der AKP-Gesetzentwurf soll die Befugnisse der Polizei bei Festnahmen, Hausdurchsuchungen und dem Schusswaffeneinsatz bei Demonstrationen erheblich stärken. Von der Regierung eingesetzte Provinzgouverneure sollen nach Gutdünken Kundgebungen verbieten und den Ausnahmezustand ausrufen können. Wer dann dennoch auf die Straße geht, dem drohen lange Haftstrafen. Zudem soll die Polizei Demonstranten ohne Einschaltung eines Richters oder Staatsanwalts bis zu 48 Stunden in Haft nehmen können – dies begünstigt nach Meinung der Opposition die Gefahr von Folter und Misshandlungen. Das Gesetz zielt offensichtlich darauf, erneute Massenproteste wie im Sommer 2013 die landesweiten Gezi-Park-Proteste gegen die AKP-Regierung zu verhindern.

Die AKP-Regierung behauptet, der geplante Gesetzentwurf solle die türkischen Sicherheitsgesetze an die EU-Standards anpassen. Dagegen kritisierte der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, auf seiner Facebookseite, eine Stärkung der Polizei ohne gleichzeitigen Ausbau unabhängiger Kontrollmechanismen steigere »das Risiko des Auftretens von Menschenrechtsverletzungen, vor allem bezüglich des Rechts auf Leben und der Versammlungsfreiheit«. Angesichts der geplanten Sicherheitsgesetze entpuppten sich alle Versprechungen der AKP über Demokratisierung als »leere Worte und Demagogie«, und der Lösungsprozess der kurdischen Frage stände damit an einem kritischen Punkt, warnte die Arbeiterpartei Kurdistans PKK vor einem Scheitern des Friedensprozesses.