spiegel.de, 18.02.2015

http://www.spiegel.de/politik/ausland/aufstand-der-frauen-nach-sexualmord-in-der-tuerkei-a-1019099.html

Sexuelle Gewalt in der Türkei: Aufstand der Frauen

Von Hasnain Kazim, Istanbul

Ein Busfahrer hat im Süden der Türkei versucht, eine Studentin zu vergewaltigen. Als sie sich wehrte, brachte er sie um. Nun protestieren Tausende von Frauen im ganzen Land gegen Gewalt.

Özgecan Aslan hatte das Pech, der letzte Fahrgast im Minibus zu sein. Der Fahrer stoppte und versuchte, die 20-jährige Psychologiestudentin zu vergewaltigen. "Sie wehrte sich", sagt der Täter, den Blutspuren im Bus überführten. Er stach auf sein Opfer ein, schlug die Frau mit einer Eisenstange und hackte ihr die Hände ab, weil er befürchtete, Hautspuren unter ihren Fingernägeln könnten ihn verraten.

Dann rief er seinen Vater und einen Freund zu Hilfe. Gemeinsam zündeten sie die Leiche an und warfen sie in ein Flussbett. Erst drei Tage später fanden Polizisten die sterblichen Überreste. Tatablauf und Fundort gingen aus dem Geständnis hervor, das der 26-jährige Hauptbeschuldigte abgelegt hat. Seine Ehefrau sagt, ihr Mann sei auch ihr gegenüber gewalttätig gewesen. "Am Tag unserer Hochzeit waren wir verliebt, aber schon bald danach machte er mir das Leben zur Hölle." Die Mutter des Beschuldigten erklärt, ihr Sohn habe als Kind oft gelitten, weil sein Vater gewalttätig war. "Aber darüber konnte ich nie mit irgendjemandem sprechen."

Die grausame Ermordung von Özgecan Aslan vergangene Woche in Tarsus, einer Stadt im Süden der Türkei, nahe dem Mittelmeer, erschüttert nun die Politik in der Türkei. Seit Tagen demonstrieren Tausende Frauen im ganzen Land gegen Gewalt. "Unsere patriarchalische Machogesellschaft muss sich verändern", fordert die Studentin Aysecan in Istanbul. Sie hält ein Foto von Özgecan Aslan hoch. "Gewalt gegen Frauen wird immer totgeschwiegen, und wenn es zu sexuellen Übergriffen kommt, wird so getan, als hätten wir Frauen selbst schuld, weil wir es darauf angelegt hätten."

"Mund halten und zum Arzt gehen"

Menschenrechtsorganisationen und Frauenrechtlerinnen beklagen seit Jahren zunehmende Gewalt gegen Frauen in der Türkei. Nach unterschiedlichen Angaben wurden allein 2014 zwischen 250 und 323 Frauen von Männern ermordet - deutlich mehr als im Jahr davor. Der Sexualmord an Özgecan Aslan, sagen mehrere Demonstrantinnen, sei kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines grundlegenden Problems. Nun wird heftig debattiert. Unter dem Hashtag #sendeanlat ("Erzähl auch du") berichten auf Twitter plötzlich viele Frauen über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Premierminister Ahmet Davutoglu verurteilen die Tat. Doch viele Kritiker machen auch deren islamisch-konservative AKP mitverantwortlich für die Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen und für die frauenfeindliche Haltung vieler Männer. Die meisten Regierungspolitiker vertreten ein sehr konservatives Rollenbild, das die Frau in erster Linie als Ehegattin, Hausfrau und Mutter sieht. Erdogan hat mehrfach gefordert, eine türkische Frau solle früh heiraten und mindestens drei Kinder zur Welt bringen. Eine solche Haltung, sind die Demonstrantinnen überzeugt, trage dazu bei, Frauen als "Männern untergeordnete Wesen" zu sehen.

In der "Hürriyet" schreibt die Kolumnistin Melis Alphan, die wahren Schuldigen seien "diejenigen, die Strafen bei Gewalt gegen Frauen reduzieren", die "Frauen das Lachen verbieten wollen und den Sexismus zur offiziellen Ideologie des Landes erklären".

In der regierungsnahen Zeitung "Yeni Safak" hält die Kolumnistin Sevda Türküsev dagegen und verurteilt den Protest. "Frauen, die erzählen, wie sie sexuell belästigt wurden, sollten den Mund halten und zum Arzt gehen. Das Leben ist kein TV-Drama", schreibt sie. Ihre Kollegin Cemile Bayraktar versucht, das Thema herunterzuspielen, indem sie schreibt: "Ähnliche Vorfälle gibt es auch in Amerika."

Eltern der Ermordeten lehnen Todesstrafe ab

Präsident Erdogan kritisiert die Opposition dafür, die Ermordung der Studentin zu "politisieren". "Der Täter ist ein Bösewicht. Das hat nichts mit seinem Glauben, seinen ethnischen Wurzeln oder seinem sozialen Status zu tun", erklärt er. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu hatte zuvor behauptet, die "schlechten sozio-ökonomischen Bedingungen" seien der Hauptgrund für solche Fälle. Erdogan kritisiert auch einzelne Oppositionsabgeordnete und Gruppen von Feministinnen, die bei Protestkundgebungen sangen und tanzten. "Das hat nichts mit unserer Religion und unserer Kultur zu tun", sagt er. Und: "Die Frau ist ein von Gott an den Mann überreichtes wertvolles Wesen, das er schützen muss."

Für Respekt in allen politischen Lagern sorgen Songül und Mehmet Aslan, die Eltern der Ermordeten. Sie fordern zwar eine gerechte Strafe für den Mörder ihrer Tochter, lehnen aber Forderungen aus Politikerkreisen nach Wiedereinführung der Todesstrafe ab. "Das ist keine Lösung", sagt Mehmet Aslan.

Zwei Minister hatten zuvor diese Strafe gefordert. Regierungschef Davutoglu kündigte eine neue Gesetzesinitiative an, um gegen Gewalt gegen Frauen vorzugehen. "Wer auch immer die Hände nach Frauen ausstreckt, dessen Hände sollen zerbrechen", sagte er.