Die Presse, 19.02.2015

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Türkei - Syrien: „Die Grenze ist keine Grenze“

Die Terrororganisation al-Nusra kontrolliert das syrische Gebiet entlang der türkischen Provinz Hatay. Die Jihadisten werden von Ankara unterstützt, sagen viele Bewohner hier.

An den meisten Wintertagen trübt der milchige Nebel den Blick, aber heute hat Yusuf freie Sicht auf die Hügel seiner Kindheit. Die dunkelgrauen Wolken ziehen über ihn hinweg, und hinter dem Haus, auf dessen Dach Yusuf hinaufgestiegen ist, blöken ein paar zottelige Schafe in die Mittagsruhe hinein. Als Yusuf noch ein Kind war, hat er drüben Oliven gepflückt und Verstecken gespielt, nun sieht er ein schier endloses Zeltmeer, eine schlammige Straße, rostrotes Geröll und einen dünnen Stacheldrahtzaun, der die Türkei von Syrien trennt.

Hinter dem Zaun war früher die Pufferzone, und erst danach hat das Land begonnen, das seit vier Jahren von einem wüsten Bürgerkrieg erschüttert wird. Auf der Zone steht nun ein Flüchtlingscamp, mehrere zehntausend Syrer dürften dort wohnen. „Wer weiß, was dort vor sich geht“, sagt der Aktivist Yusuf, der seinen richtigen Namen lieber nicht nennen möchte.

Nacht für Nacht habe er beobachtet, wie Lkw die Schlammstraße entlanggefahren, Material für das Camp abgeladen und wieder zurückgefahren sind. Das seien keine Hilfsladungen, sind sich Yusuf und die Bewohner des kargen Dorfs Bükülmez sicher: Die Lieferwägen ohne Nummerntafeln werden von Autos begleitet, die die Telefonfrequenzen stören, die Soldaten kontrollieren die Lieferungen nicht, gleich neben der Grenze befindet sich ein gesichertes Gefängnisareal. „Und überhaupt“, fragt Yusuf, „warum immer nachts?“

Bükülmez ist gerade einmal eine Autostunde von Aleppo entfernt. Noch während die ganze Welt gebannt auf die vom Islamischen Staat (IS) umlagerte kurdisch-syrische Stadt Kobane blickte, seien hier in der südtürkischen Provinz Hatay unbemerkt die Terroristen genährt worden, sagt Yusuf. Der stämmige Mann zieht den Reißverschluss seiner olivgrünen Winterjacke hoch und blickt grimmig zu der weißen Zeltstadt. Von seiner Version der Geschichte ist Yusuf überzeugt, denn die türkische Regierung mache sich nicht einmal die Mühe, ihre eigene zu erzählen.

Hatay grenzt an den westlichen Teil Syriens, der vom al-Qaida-Ableger al-Nusra kontrolliert wird. Im Camp mögen Frauen und Kinder wohnen, aber auch Jihadisten werden dort ausgebildet, ist man sich hier sicher: „Die, die hinübergehen wollen, werden nicht aufgehalten.“ Der Stacheldrahtzaun sei durchlöchert wie Schweizer Käse.


Brot und Reis für Flüchtlinge

Al-Nusra ist mit dem IS verfeindet, der syrische Machthaber Bashar al-Assad wiederum ist ihr gemeinsamer Gegner. Vor rund vier Jahren wurde die al-Nusra-Front als Zelle des IS in Syrien gegründet, der Bruch folgte zwei Jahre später. Auf Seiten der syrischen Flüchtlinge, aber auch in Teilen der Bevölkerung in Hatay kann die Terrorgruppe mit mehr Sympathien rechnen als der IS – deren barbarische, öffentliche Ermordungen schrecken hier viele ab. Was aber die Ziele für ein Nachkriegssyrien betrifft, unterscheiden sich die beiden Gruppen nicht: Scharia und Kalifat mit all ihren Folgen.

Vom Nachbarhaus ruft ihn sein Cousin Mehmet zum Tee, Yusuf müht sich vom Dach hinunter. Zwischen den Olivenbäumen unter ihm spaziert ein türkischer Soldat in Camouflage. Die leeren Dorfhäuser aus nackten Ziegelsteinen werden von syrischen Flüchtlingen bewohnt, die Nachbarn helfen mit Brot und Reis aus. Von seinem Wohnzimmer aus blickt Mehmet sowohl zum Camp als auch auf die Hügel vor Afrin im nordwestlichen Teil Syriens, der zur kurdischen, quasi-autonomen Region Rojava gehört. Manchmal verirren sich kurdische Flüchtlinge hierher, sagt Mehmet, und landen versehentlich wieder in Syrien, aber diesmal bei al-Nusra: „Die Grenze ist keine Grenze. Woher sollen die Leute wissen, wo sie sind?“ Zumal auch in diesem Teil Hatays Arabisch die Umgangssprache ist. Die Kurden habe er anschließend in die Provinzhauptstadt Antakya gefahren, sagt der schnauzbärtige Mehmet.

Seinem Cousin erzählt er von dem Wagen mit der Nummerntafel der Provinz Van, der bis zu zehnmal am Tag hinüber zum Camp fährt. Immer habe er Männer im Auto. Er fahre welche hin und hole andere ab: „Was die Leute dort machen, muss ich wohl nicht erzählen.“ Der Fahrer sei amtsbekannt, sagt Yusuf. Mit dem Transport von Jihadisten verdiene er gutes Geld.

Yusuf habe aufgehört, seine Beobachtungen den Behörden zu melden. Es bringe nichts. Er habe das Dorf verlassen und sei in die Stadt gezogen. Eigentlich wolle er ganz weg aus Hatay. Für ihn ist seine Heimat längst ein Kriegsgebiet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2015)