Neue Zürcher Zeitung, 20.02.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/sicherheitsgesetz-mit-sprengkraft-1.18487709

Grundrechte in der Türkei

Sicherheitsgesetz mit Sprengkraft

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Ankara will die Befugnisse der Polizei ausweiten. Die Opposition warnt vor einem Rückfall in die dunklen Zeiten der Militärdiktatur.

In der Nacht auf Mittwoch ist die Parlamentsdebatte in Ankara über ein Gesetzespaket, das die öffentliche Ordnung in der Türkei schützen soll, in eine wüste Keilerei ausgeartet. Stühle und Wassergläser wurden herumgeworfen, ein Abgeordneter schnappte sich das Hämmerchen vom Pult des Vorsitzenden und ging damit auf einen politischen Widersacher los. Mindestens ein Parlamentarier landete in einem Blumengesteck. Fünf Volksvertreter, allesamt Mitglieder der Opposition, mussten verarztet werden.

Ritzen an der Gewaltenteilung

Kernstück des 132 Artikel umfassenden Entwurfs der Regierungspartei AKP sind grössere Vollmachten für die Sicherheitskräfte. So würde es der Polizei erlaubt, Demonstranten bis zu 48 Stunden festzuhalten, ohne sie einem Haftrichter vorzuführen. Auch wären die Beamten befugt, von ihrer Schusswaffe Gebrauch zu machen, wenn Protestierende Brandsätze zünden. Damit steigt unweigerlich das Risiko von Verletzten und Toten.

Schon jetzt gehen Polizeikräfte oft rabiat gegen Demonstranten vor. Erlangt das Sicherheitspaket Gesetzeskraft, müssen Vermummte mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren rechnen, sofern sie an einer Kundgebung für eine terroristische Vereinigung teilnehmen. Dieser Passus ist ganz offenkundig auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren Anhänger gemünzt. Das Gesetz wurde nach den schweren Unruhen vom Oktober 2014 eingebracht. Zuvor war es der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beinahe gelungen, die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt Kobane (Ain al-Arab) an der syrisch-türkischen Grenze einzunehmen. In zahlreichen Städten protestierte die kurdische Bevölkerung gegen die passive Haltung der türkischen Regierung.

Kurdische Kreise lehnen die umstrittenen Paragrafen ab, weil sie den Annäherungsprozess zwischen der PKK und der Regierung gefährdeten. Auf Widerstand der drei Oppositionsparteien, die sich für einmal einhellig äussern, stösst auch der Artikel, der Provinzgouverneure ermächtigen soll, in eigener Regie den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei in bestimmten Strafverfahren Instruktionen zu erteilen. Richter und Anwälte demonstrierten auf Ankaras Strassen gegen die Aushöhlung der Gewaltenteilung.

Die Gegner des Sicherheitsgesetzes übertreiben, wenn sie der Regierung eine faschistoide Gesinnung unterstellen und gegen die Legitimation von «Staatsterror» polemisieren. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass der türkische Staat unter Präsident Recep Tayyip Erdogan zunehmend autoritärere Züge annimmt. Ohne eine Verfassungsänderung abzuwarten, baut der machtbewusste Politiker die Türkei in eine Präsidialrepublik um.

Manche sehen in den neuen Sicherheitsgesetzen den Versuch, vor den Wahlen vom Juni Kritiker einzuschüchtern. Im Jahre 2013 hatte die geplante Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul wochenlange Kundgebungen hervorgerufen. Die türkische Menschenrechtsstiftung verurteilte die Sicherheitsgesetze als Rückschritt für die bürgerlichen Grundrechte.

Übermacht im Parlament

Nach Ansicht der Regierung steht das Gesetzesvorhaben im Einklang mit europäischen Standards. Hervorgehoben wurde auch, dass damit Grundlagen für eine zivile Kontrolle von Polizeieinsätzen geschaffen würden. Die Türkei-Sonderbeauftragte des Europäischen Parlaments, Kati Peri, warnte bei einem Besuch in Ankara unlängst vor der Gefahr exzessiver Polizeigewalt.

Mit einer absoluten Mehrheit im Parlament sollte es für die Regierungspartei eigentlich ein Leichtes sein, genügend Stimmen für die Vorlage zusammenzubringen. Die Opposition legte es indes darauf an, die Debatte mit ausgedehnten Reden in die Länge zu ziehen. Die AKP-Abgeordneten erkannten darin eine Filibuster-Taktik und zielten offenbar darauf ab, die Ausführungen des gegnerischen Lagers mit brachialen Mitteln abzubrechen, zumal die Debatte hinter verschlossenen Türen stattfand. Dass sich zwei Abgeordnete ihre Verletzungen selber zugefügt haben sollen, klingt nicht sehr plausibel. Die Beratungen wurden am Donnerstagabend im Parlament in Ankara fortgesetzt – und gipfelten in einem fünfzehnminütigen Handgemenge.