Der Standard, 21.02.2015 http://derstandard.at/2000011980447/Mehr-Macht-fuer-tuerkische-Polizei Mehr Macht für türkische Polizei Markus Bernath Davutoglu ruft Bürger indirekt zur Selbstjustiz auf Ankara/Sofia - Auch für die an Gewaltausbrüche gewohnte türkische Öffentlichkeit sind dies aufwühlende Tage. Die brutale Ermordung einer Studentin durch einen Kleinbusfahrer beschäftigt noch das Land, als diese Woche ein wütender Ladenbesitzer in Istanbul vor seinem Geschäft einen Journalisten ersticht. Wegen eines Schneeballwurfs. Im Parlament in Ankara debattieren die Abgeordneten seit Donnerstag wieder über die erhebliche Verschärfung von "Sicherheitsgesetzen", die von der konservativ-religiösen Regierung betrieben wird. Die Debatte war einen Tag lang ausgesetzt worden - wegen einer nächtlichen Massenschlägerei im Plenum, bei der Parlamentarier der regierenden AKP fünf Oppositionsabgeordnete verletzten. Tiefe Spaltung Die Spaltung des Landes scheint mittlerweile so tief, dass nicht einmal die versuchte Vergewaltigung und anschließende Ermordung der Studentin Özgecan Aslan in der Provinz Mersin im Süden der Türkei vergangene Woche von der politischen Instrumentalisierung ausgespart bleibt. So machte ein Abgeordneter der Regierungspartei die türkischen Fernsehserien mit ihren seichten Liebes- und Familiendramen für die Vergewaltigungsfälle im Land verantwortlich. Die "Weiblichkeit" werde als Mittel für politische Provokationen benutzt, erklärte Premierminister Ahmet Davutoglu vor dem Hintergrund der Straßenkundgebungen in mehreren türkischen Städten gegen die andauernde Gewalt gegen Frauen. Davutoglu rief auch an anderer Stelle, in einer Rede vor AKP-Bürgermeistern am Donnerstag, parteitreue Bürger indirekt zur Selbstjustiz auf. "Das ganze Volk wird aufstehen und seine Straßen und Städte gegen jene verteidigen, die den Molotow-Cocktail unterstützen", sagte er an die Adresse der Oppositionsführer gerichtet. Oktoberproteste Mit dem Molotow-Cocktail meinte Davutoglu militante Demonstranten, die in der Regel solidarisch mit der offiziell noch verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sind und sich immer wieder Auseinandersetzungen mit der Polizei liefern - dieser Tage wieder in Cizre, einer kurdischen Stadt im türkischen Grenzgebiet zu Syrien und Iran. Die landesweiten gewalttätigen Proteste im Oktober 2014, bei denen sich PKK-nahe Kurden auf der einen Seite und militante Islamisten und Nationalisten auf der anderen Seite gegenüberstanden, hat die Regierung auch zum Anlass für die Verschärfung der "Sicherheitsgesetze" genommen. Sie lässt der Polizei freie Hand, Personen und deren Wohnung oder Arbeitsplatz ohne richterliche Anordnung zu durchsuchen und abzuhören. Ein Richterentscheid muss erst nach 24 Stunden folgen. (Markus Bernath, DER STANDARD, 21.2.2015)
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