taz, 24.02.2015

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Aus China in die Türkei

AUSREISE Viele Uiguren fühlen sich in ihrer nordwestchinesischen Heimat diskriminiert. Immer mehr versuchen das Land zu verlassen und irgendwie nach Istanbul zu gelangen

AUS ZEYTINBURNU/ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Recep Sadettin Akyol ist eigentlich Gemüsehändler, doch für seinen Laden hat er im Moment wenig Zeit. Seit zwei Monaten ist er fast rund um die Uhr von seinem Ehrenamt als Vorsitzender des Vereins der "Einwanderer aus Ost-Turkestan" in Anspruch genommen. "Noch nie haben sich so viele hilfesuchende Neuankömmlinge an uns gewandt wie im Moment", erzählt er. "Unsere Brüder und Schwestern aus China flüchten in Scharen, und die meisten kommen zu uns in die Türkei."

Sein Verein kümmert sich um die Flüchtlinge - Uiguren, die ethnisch zu den Turkvölkern gehören und meist Muslime sind. "Die Uiguren wurden in China schon immer unterdrückt", sagt Akyol, dessen eigene Familie schon in den 1950er Jahren aus der Volksrepublik eingewandert ist. "Aber so schlimm wie zurzeit war es noch nie." Seit dem vergangenen Sommer sind rund 7.000 Uiguren in die Türkei gekommen, besonders viele aber seit Januar dieses Jahres.

"Sie dürfen ihre Religion nicht mehr ausüben", meint Herr Akyol, "Frauen wird der Schleier vom Gesicht gerissen und die Männer werden auf dem Weg in die Moschee verprügelt." Tatsächlich sind für die Region Xingjiang ganz im Nordwesten Chinas, in der die Uiguren zu Hause sind, Anfang Februar neue restriktive Regeln in Kraft getreten. Parteifunktionären, Staatsangestellten, Lehrerinnen oder Schülern war es aber schon länger untersagt, Bart oder Schleier zu tragen. Peking begründet das als Maßnahme gegen den globalen islamistischen Dschihad, dem sich angeblich immer mehr Uiguren angeschlossen haben.

In China selbst ist es in den vergangenen Jahren mehrfach zu Zusammenstößen zwischen Uiguren, Han-Chinesen und der Polizei gekommen. Es gab blutige Attacken von Uiguren gegen Passanten auf öffentlichen Plätzen, bei denen viele Menschen starben.

Die Behörden behandeln flüchtende Uiguren, die an der Grenze zum Nachbarland Vietnam aufgegriffen werden, deshalb oft gleich als potenzielle Terroristen, die angeblich in den Dschihad ziehen wollten.

Akyol hält das für Unsinn. "Sicher", sagt er, "es gibt ein paar junge zornige Männer unter den Uiguren, die den falschen Versprechen der Islamisten geglaubt haben und nach Syrien gegangen sind." Das seien aber "nur sehr wenige - viel weniger, als aus westlichen Staaten nach Syrien in den Krieg gezogen sind". Die Flucht in die Türkei - das einzige Land, in dem sie problemlos aufgenommen werden - ist für die meisten Uiguren mühsam und gefährlich: Die Grenze Xinjiangs nach Westen, nach Kirgistan oder Kasachstan, ist streng bewacht. Die meisten versuchen über Vietnam, Laos und Thailand nach Malaysia zu kommen. Im muslimischen Malaysia hilft man ihnen weiter in die Türkei.

Wie diese Unterstützung aussieht, wollen die Flüchtlinge nicht erzählen, um die Reise derjenigen, die noch unterwegs sind, nicht zu erschweren. Sadettin Akyol geht davon aus, dass im Moment noch 4.000 bis 5.000 uigurische Flüchtlinge auf dem Weg in die Türkei sind. Wer in Istanbul ankommt, wendet sich oft als Erstes an das Büro von Sadettin Akyol in Zeytinburnu, einem armen Arbeiterstadtteil. "Sie können unsere Adresse benutzen, um sich bei der Polizei anzumelden", sagt Herr Akyol. In einem Pro-forma-Verfahren wird ihre Einwanderung dann legalisiert. Ende Januar hat der türkische Staat eine Gruppe von 500 Uiguren in Wohnungen im zentralanatolischen Kayseri untergebracht, Wohnungen, die eigentlich für Polizeioffiziere gebaut worden waren. "Wir helfen jetzt weiteren Neuankömmlingen, dass sie Wohnungen in Kayseri bekommen", erzählt Akyol stolz.

Die Uiguren sind in der Türkei, anders als Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran oder dem Irak, eine privilegierte Gruppe. Für die türkischen Nationalisten sind sie der östlichste Vorposten von Großturkistan und für die Religiösen darüber hinaus unterdrückte Glaubensbrüder, denen man helfen muss. Die türkische Regierung weist allerdings Vorwürfe zurück, dass sie aktive Fluchthilfe leisten würde. "Für uns sind die Flüchtlinge aus China ein rein humanitäres Problem", sagte ein Sprecher des Außenministeriums gegenüber der Zeitung Hürriyet.