Neue Zürcher Zeitung, 25.02.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/die-weisse-zeltstadt-von-suruc-1.18489852

Hilfe für Kobane

Die weisse Zeltstadt von Suruc

Inga Rogg, Suruc

Die türkische Regierung hat ein vorbildlich ausgestattetes Camp für Flüchtlinge aus Kobane errichtet. Trotzdem wollen viele syrische Kurden dort nicht hin.

Weiss wie ein Schneefeld breitet sich die Zeltstadt über die Felder aus, die sich über die weite, fruchtbare Ebene im Gebiet der Grenze zwischen der Türkei und Syrien erstrecken. Seit dem Beginn des Kriegs im Nachbarland sind nach offiziellen Angaben mehr als 1,5 Millionen Syrer in die Türkei geflohen. Das belastet auch die Staatskasse, und trotzdem hat sich die Regierung mit diesem Camp noch einmal extra ins Zeug gelegt.

Grosszügige Hilfe

Das Camp auf einem Hügel nördlich von Suruc, der letzten Stadt vor der türkisch-syrischen Grenze, ist nicht nur das grösste, es ist auch eines der am besten ausgestatteten Flüchtlingslager in der Türkei. Errichtet hat es der staatliche Katastrophendienst Afad für die Flüchtlinge aus Kobane (Ain al-Arab). Viel Kritik haben sich Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein Regierungschef Ahmet Davutoglu von Kurden wegen ihrer Politik gegenüber den syrischen Kurden anhören müssen. Diese gipfelte im polemischen Vorwurf, Ankara verwehre den Brüdern und Schwestern in Kobane jegliche Hilfe, unterstütze aber die Extremisten des Islamischen Staats (IS). Vielleicht hat sich die Regierung auch deshalb so bemüht, dass es in der «Afad-Suruc-Zeltstadt», so lautet der offizielle Name, an nichts mangelt.

Auf mehr als tausend Hektaren bietet das Camp bis zu 40 000 Flüchtlingen Zuflucht. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingslagern gibt es hier genügend Platz. Eine Strasse, auf der locker zwei Lastwagen aneinander vorbeikommen, durchzieht die Zeltstadt, die wie eine Kleinstadt in einzelne Quartiere unterteilt ist. Jedes dieser Quartiere verfügt über Container mit Duschen, Toiletten, Becken zum Geschirrspülen und sogar Waschmaschinen.

In zwei Notfallspitälern sind rund um die Uhr Ärzte im Dienst, für den Ernstfall stehen vier Feuerwehrfahrzeuge bereit. Es gibt Moscheen und Versammlungsorte mit Fernseher für Frauen und für Männer. Zum Schutz gegen Wind und Wetter stehen die 7000 Zelte auf Plastic-Paneelen. Jedes Zelt ist mit einem Kühlschrank und einem Küchenschrank mit Töpfen und Geschirr ausgestattet. Dreimal täglich erhalten die Flüchtlinge eine Mahlzeit. Umgerechnet 35 Millionen Dollar hat die Regierung nach Angaben der Leitung des Camps investiert.

Keine baldige Rückkehr

Es sei zwar etwas kühl, sagt Ikhlas Hassan. Aber das Camp sei hervorragend organisiert. Hochschwanger floh die Schneiderin Anfang Oktober mit ihrem Mann und den vier Kindern aus einem Dorf bei Kobane. Die Extremisten des Islamischen Staates waren auf dem Vormarsch, und Hassan folgte, wie viele Flüchtlinge auch, dem Aufruf der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), ihr Dorf zu verlassen. «Wir haben alles stehen und liegen lassen und sind zu Fuss in die Türkei marschiert.» Suruc ist für die rundliche Frau mit der rosigen Haut nun bereits die vierte Station.

In eine Wolldecke gewickelt, wiegt Hassan sachte ihr jüngstes Kind im Arm. Vor vier Wochen brachte sie den Buben im staatlichen Spital der knapp fünfzig Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Sanliurfa zur Welt. Welat, Heimat, heisst er. «Wir sehnen uns nach unserem Zuhause, deshalb haben wir ihn so genannt. Ich möchte so schnell wie möglich zurück.» Ihre elfjährige Tochter Narin stimmt ein Lied auf Kobane an. Im Nu ist sie von einer Kinderschar umringt, diese singt: «Kobane, wir werden dich befreien.»

Ende Januar haben die Kämpfer der YPG und die Kämpferinnen ihrer Fraueneinheiten den IS aus der Stadt vertrieben. Doch für eine Rückkehr der vielen Flüchtlinge – laut der türkischen Regierung flohen im Herbst 200 000 Personen – ist es zu früh. Viele Häuser sind zerstört, vor allem aber hat die viermonatige Schlacht die Stadt in ein Minenfeld verwandelt. Der Islamische Staat soll ganze Häuser mit Sprengstoff-Fallen vermint haben, in den Strassen wimmelt es von Blindgängern.

Gerüchte und Argwohn

Im Camp von Suruc stellt man sich darauf ein, dass die Flüchtlinge wohl noch lange bleiben. «Hier werden demnächst die Schulen eröffnet», sagt Arif Farac, der Presseverantwortliche des Provinzgouverneurs. Auch einen Kindergarten werde es geben. Mit ausholender Handbewegung zeigt der Mittdreissiger auf einen Platz, auf dem eine bunte Rutschbahn steht. Sechs Schulen, an denen Kinder von der 1. Klasse bis zur Matura unterrichtet werden können, sind geplant. Am Ende des Camps legen Angestellte letzte Hand an einem Supermarkt an, der in Kürze seine Pforten öffnen soll. «Jeder Flüchtling erhält eine Geldkarte mit 85 türkischen Lira (32 Franken) pro Monat für den persönlichen Bedarf», sagt Farac. Sollte das Geld nicht reichen, lasse man die Flüchtlinge nicht im Stich.

Der Camp-Direktor Mehmet Han Özdemir kümmert sich höchstpersönlich um die Belange der Flüchtlinge. Als wir ihn am späten Abend in seinem Zelt-Büro treffen, kommt er gerade von einer Inspektion zurück. Das mache er jeden Abend, um sicher zu sein, dass es den Notleidenden an nichts fehle. «Wir haben unser Herz für die Flüchtlinge geöffnet», sagt Özdemir. «Das will ich ihnen auch persönlich vermitteln.»

So recht gehört wird die Botschaft aber scheinbar nicht. Die meisten Zelte stehen leer, nur etwa 5000 Flüchtlinge haben die Unterkünfte bisher bezogen. An Sprachproblemen liegt es nicht. Viele der 800 Mitarbeiter sind, ebenso wie die Flüchtlinge, Kurden und sprechen den gleichen kurdischen Dialekt, die Schilder an den Anlaufstellen sind viersprachig: Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Englisch. «Sie verbreiten Gerüchte, erzählen, das Camp sei ein Gefängnis», sagt ein kurdischer Mitarbeiter der Verwaltung des Camps. Tatsächlich ist die Zeltstadt gut bewacht, und jedes einzelne Quartier umgibt ein Zaun. Überall stehen Überwachungskameras, und von den 800 Mitarbeitern sind 325 Sicherheitsleute. Doch die Flüchtlinge bestätigen, dass sie kommen und gehen können, wie sie wollen.

Der Vorwurf der Verbreitung von Gerüchten ist auf die Stadtverwaltung von Suruc gemünzt, die sich in der Hand der kurdischen Partei für Demokratie und Frieden (BDP) befindet. Und diese macht aus ihren Sympathien für die Volksverteidigungseinheiten kein Hehl. Sechs Flüchtlingscamps mit rund 20 000 Bewohnern, die ausserhalb der staatlichen Zeltstadt leben, hat die Stadt organisiert. Sie tragen Namen wie «Arin Mirxan» – eine Selbstmordattentäterin, die sich im Oktober vor einer IS-Stellung in Kobane in die Luft sprengte – oder «Rojava» (Westen), wie die Kurden den syrischen Teil des imaginären Gross-Kurdistan nennen.

Suruc ist eine dieser öden Städte in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei, in denen vor den Polizeiwachen gepanzerte Fahrzeuge stehen, Wasserwerfer ständig einsatzbereit sind, Frauen billige Synthetikkleider und Kopftücher tragen und Männer sich den Tag auf dem zentralen Platz vertreiben, weil sie sonst nichts zu tun haben. Geld, um auch noch Flüchtlinge zu versorgen, gibt es in der Stadtkasse nicht. Und so werden die Camps vor allem durch Spenden finanziert. Gemeinden, die ebenfalls von Kurden verwaltet werden, haben Zelte gespendet oder schicken Lebensmittel. Die türkischen Kurden in Europa organisierten Spendensammlungen, sagt Halbest Dersim, die sich zusammen mit zwei weiteren Frauen um die Verwaltung des «Rojava»-Camps kümmert.

Vor drei Monaten hat Dersim ihren Job als Buchhalterin in Istanbul an den Nagel gehängt, um in Suruc auszuhelfen. Geld bekomme sie dafür keines, sagt sie. Wie sie sind Dutzende von Freiwilligen im Einsatz, auch Ärzte und Lehrer arbeiten unentgeltlich. Bis vor zwei Tagen habe die Provinzverwaltung von Sanliurfa, in der wie in Ankara die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) den Ton angibt, einmal täglich Suppe für die Flüchtlinge bereitgestellt, sagt die Aktivistin. Dass die Regierung die Hilfe plötzlich eingestellt habe, sei ein Druckmittel, damit die Flüchtlinge ins Afad-Camp zögen. «Aber selbst wenn sie unsere Camps schliessen, wird niemand dorthin gehen», behauptet Dersim. «Keiner traut der Regierung. Jeder weiss, dass sie den Islamischen Staat unterstützt.»

Gegenseitiges Misstrauen

Dicht an dicht stehen die Zelte im «Rojava»-Camp. Während das Afad-Camp in der Nacht im Lichterglanz erstrahlt, ist es in den engen Gassen hier stockdunkel, nur in den Zelten brennt Licht. Dass die Versorgung oben auf dem Hügel besser ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Trotzdem will keiner der Flüchtlinge, die wir treffen, umziehen. Das Misstrauen der türkischen Kurden gegenüber Ankara hat längst auch ihre syrischen Nachbarn erfasst. «Ich kann die Türken nicht leiden», sagt eine Frau. «Sie sind alle Daash», wie die Gegner den IS in Syrien und im Irak nennen.

Anders als in der Zeltstadt auf dem Hügel gibt es hier unten in der Ebene morgens und abends nur Brot und eine warme Mahlzeit am Tag, Fleisch gibt es alle zehn Tage einmal. Ein hartes Los für jemanden wie Mustafa Hamju. In seinem Dorf nahe Kobane war er mit Ländereien von rund 220 Hektaren, Kuh- und Schafherden so etwas wie der König. Als die IS-Extremisten das Dorf überfallen hätten, hätten sie sechs junge Männer umgebracht, sagt der Alte. «Aber es waren dann unsere eigenen Nachbarn, Araber, die unsere Tiere, das Auto, den Traktor und die Ernte stahlen. Sogar die Lampen und Türen im Hof haben sie herausgerissen.» Mit seiner Frau und den zwölf Kindern haust er jetzt in einem Zelt. Ja, er habe gehört, dass die Versorgung im Afad-Camp besser sei. Trotzdem wolle er nicht dorthin.

Aus der Ferne ertönt der schwere Knall einer von einer Bombe verursachten Explosion. Der Boden des Zeltes bebt. Etwa zwanzig Minuten später folgt das nächste Bombardement. Hajmus Frau Shams Mustafa lacht. «Ha, das sind unsere Freunde, die Amerikaner und Franzosen . Hoffentlich machen sie alle platt.» Dann kehrt wieder Ruhe ein, das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwindet. «Kannst du wieder mit jemandem zusammenleben, der dir deine Kleider gestohlen hat?», fragt sie. «Nein. Und genauso ist es mit unseren arabischen Nachbarn.» Auch deshalb wolle die Familie nicht ins Afad-Camp. Auf die Hewals sei dagegen Verlass, sagt ihr Mann. «Hewal» (Freund oder Genosse) nennen Kurden die Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten und der mit ihnen verbündeten türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). «Sie haben uns beschützt», sagt der alte Hamju. «Sie geben uns, was sie bekommen. Das ist es doch, was zählt.»

Mit allen Mitteln wollte Erdogan verhindern, dass die Volksverteidigungseinheiten und mit ihnen die PKK in Kobane einen militärischen und propagandistischen Sieg erringen. Am Ende hat er damit genau das Gegenteil erreicht. Heute lassen sie sich als die Helden im Kampf zwischen Freiheit und Finsternis feiern, während Erdogan und die AKP als diejenigen dastehen, die den syrischen Kurden in grösster Not die kalte Schulter zeigten. Das ist verzerrt und sicher auch ungerecht. Aber der Schaden ist angerichtet. Daran ändert auch die schneeweisse Zeltstadt auf dem Hügel oberhalb von Suruc nichts. Aber vielleicht behält der Helfer ja recht, der sagte: «Wenn sich herumspricht, dass wir nur das Beste wollen, werden die Flüchtlinge kommen.»