welt.de, 02.03.2015

http://www.welt.de/print/welt_kompakt/kultur/article137963573/Er-lehrte-Erdogan-das-Fuerchten.html

Die verbotenen Freiheitskämpfer

Er lehrte Erdogan das Fürchten

Der verstorbene Friedenspreisträger Yaşar Kemal machte die Legenden seiner Heimat zu Geschichten

Von Iris Alanyali

So viele Preise hat er bekommen! Und für was für Schimpftiraden hat er sie genutzt! Wir stellen uns Yaşar Kemal in seinem chaotischen Arbeitszimmer in Istanbul vor, wo er gerade wieder einen Telefonanruf mit der Nachricht bekommen hat, man würde ihm gerne jene Auszeichnung oder diese Ehrendoktorwürde verleihen. Der alte Mann mit dem schönen, klaren Türkisch bedankt sich höflich, er legt auf, schlurft zum großen Panoramafenster, blickt über den Bosporus und fängt an, heiser zu lachen: Wieder eine Gelegenheit, die Dankesrede für eine Standpauke zu nutzen!

Man musste bei Preisverleihungen in der Türkei nur in die Gesichter der Amtsträger in den ersten Reihen blicken, um sich ungefähr vorstellen zu können, was Kemal am Herzen lag. Etwa 2008, als er den Großen Kunst- und Kulturpreis der Türkischen Republik bekam, die Vielfalt der Kulturen und Sprachen rühmte und ausrief, man könne die Welt nur demokratisch verbessern, "nur demokratisch!", und der damalige Premierminister Tayyip Erdogan aussieht, als würde er sich am liebsten unter dem Kopftuch seiner Frau verkriechen. Unzählige Male, wenn er für die Rechte der Kurden eintrat, schienen anwesende Politiker im Boden versinken zu wollen, in dem so viel Blut türkischer Soldaten und kurdischer Rebellen versickert ist.

Kemal kam 1923 im südanatolischen Dorf Hemite in der Çukurova-Ebene auf die Welt. Sein Vater ist ein reicher kurdischer Großgrundbesitzer. Kemal ist vier, als er miterlebt, wie ein Adoptivbruder den Vater beim Gebet in der Moschee erschlägt: "Von da an begann ich zu stottern", hat er später erzählt. "Nur wenn ich sang, kamen mir die Worte widerstandslos über die Lippen. Und erst mit etwa elf Jahren, als ich lesen und schreiben gelernt hatte, hörte es allmählich wieder auf."

Nach dem Tod des Vaters verarmt die Familie. Die Mutter stammt aus einer Sippe von Bergbanditen, ihre Geschichten wird er später zu seinen Erzählungen verweben, etwa die Legende von Mahiro, dem Räuberhauptmann, der so tapfer gewesen sei, so loyal gegenüber seinen Männern, dass man nach seinem Tod im Kugelhagel der Gendarmen vier Herzen in seiner Brust gefunden habe.

Weil die Dörfler, die Nomaden und die fahrenden Händler seine Geschichten so lieben, darf er als einziges Kind von Hemite in die zehn Kilometer entfernte Schule gehen und Lesen und Schreiben lernen. Fortan steht ihm die Welt offen – und Kemals Welt, das werden die Romane von Cervantes, Tschechow, Stendhal einerseits und die Weiten Anatoliens andererseits. Denn nach zahllosen Gelegenheitsjobs unter anderem als Erntehelfer, Traktorfahrer, Schuhmacher, Briefeschreiber oder Hilfslehrer durchstreift er in den 50er-Jahren als Journalist für die "Cumhuriyet" seine Heimat.

Die Erzählungen, die die Tageszeitung abdruckt, erregen ebensolches Aufsehen wie seine Kolumnen: literarische Texte, die Umgangssprache verwenden! Voller anatolischer Wörter, statt sich auf das armselige, nach dem Untergang des Osmanischen Reiches von allem Orientalischen bereinigte Resttürkisch zu beschränken! Und Zeitungsreportagen, die von der Unterdrückung einfacher Arbeiter handeln, von Hunger und Armut inmitten einer an Mythen und Naturschönheiten reichen Landschaft erzählen! Die Aufregung ist so groß, dass sich das türkische Parlament mit den Berichten beschäftigt.

Mehrmals landet Kemal im Gefängnis. 1971 wird er wegen seines Einsatzes für die Rechte der Kurden erneut festgenommen, aber diesmal ist er berühmt genug, um nach internationalen Protesten wieder freigelassen zu werden.

Die Memed-Trilogie macht ihn zum meistgelesenen und international berühmtesten Schriftsteller der Türkei. 1997 bekommt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Laudatio hält sein Freund Günter Grass.

Sein Leben hat den Dichter zu einer Symbolfigur des türkischen Volkes gemacht. So wie er die Menschen seiner Heimat im literarischen Gedächtnis der Türkei verewigt hat. Kemals Leid spiegelte den Schmerz der Menschen seines Landes, seine Liebe zur Heimat war ihnen Trost, sein Ruhm ihr Glück. Am Samstag, den 28. Februar 2015 ist Yaşar Kemal gestorben.