Neue Zürcher Zeitung, 02.03.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/die-einsamkeit-von-emine-yaman-1.18493180

Gewalt gegen Frauen in der Türkei

Die Einsamkeit von Emine Yaman

Inga Rogg, Istanbul

Der Mord an einer jungen Studentin hat in der Türkei eine enorme Protestwelle ausgelöst. Emine Yaman hat einen Mordanschlag schwer verletzt überlebt. Vergeblich kämpft sie seit Jahren um ihr Recht.

Laut und vernehmlich ruft die Stimme: «Kommt rein. Ich bin hier.» Es ist eine kräftige Frauenstimme, beinahe heiter klingt sie. Im Treppenhaus huscht eine Nachbarin vorbei und zieht schnell die Tür hinter sich zu. Mit ihrer rechten Hand winkt uns Emine Yaman zu. «Setzt euch, macht es euch bequem.» Emine Hanim, wie wir sie der türkischen Tradition entsprechend ansprechen, liegt im Bett, die Arme und der Kopf sind alles, was sie bewegen kann.

Mord an Studentin

Ende August 1999 war Emine Yaman auf dem Weg in einen Supermarkt im Istanbuler Stadtteil Esenler, in dem sie aufgewachsen ist. Plötzlich fallen Schüsse, Kugeln durchschlagen ihre Brust und das Rückenmark. Die Ärzte können sie zwar retten, aber sie wird nie wieder ein normales Leben führen können, für den Rest ihres Lebens ist sie gelähmt.

Am Bettgalgen hängt ein geknotetes Tuch, an dem sich die heute 46-Jährige ein Stück hochziehen kann. Neben ihr hängen ein kleiner Spiegel, eine Gebetskette und ein Handtuch. Der Täter, ihr Ehemann, wurde für das Verbrechen nie wirklich bestraft. «Nicht einmal die Geldstrafe hat er bezahlt», sagt Emine Yaman.

«Wir Frauen haben keinerlei Rechte.»

Beinahe täglich wird in der Türkei eine Frau Opfer eines Verbrechens. Mitte Februar schockierte die Öffentlichkeit der Mord an Özgecan Aslan. Die 20-jährige Psychologiestudentin aus dem südtürkischen Mersin war auf dem Nachhauseweg von der Uni, als der Busfahrer versuchte, sie zu vergewaltigen. Als sich Aslan zur Wehr setzte, stach er mit einem Messer auf sie ein. Anschliessend schnitt er ihr die Finger ab. Mithilfe seines Vaters und eines Cousins versuchte er laut Polizeiangaben, den Leichnam zu verbrennen. Die verstümmelte und halb verkohlte Leiche fand man in einem Flussbett. Das brutale Verbrechen hat in der Türkei eine Welle des Entsetzens und der Wut ausgelöst. In Dutzenden von Städten gingen Tausende auf die Strasse, um gegen Männergewalt zu demonstrieren.

Aktivistinnen starteten auf Twitter eine Kampagne. Unter dem Hashtag #sendeanlat («erzähl auch du»), berichteten Frauen über Vergewaltigung, sexuelle Belästigung oder ihre Angst, nachts alleine unterwegs zu sein. Innerhalb von nur zwei Tagen erreichte die Aktion mehr als eine halbe Million Tweets. Türkische Moderatorinnen und Moderatoren kleideten sich einen Tag lang schwarz.

Männer starteten eine Solidaritätsaktion der besonderen Art: Sie zogen sich Miniröcke an und stellten die Bilder davon ins Netz. Ein paar Männer tauchten dann sogar an einer Protestveranstaltung in Istanbul in Röcken auf. Damit protestierten die Männer auch gegen die weitverbreitete Meinung, Frauen seien selber schuld, wenn sie Opfer von Gewalttaten würden.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu haben den Mord an Aslan scharf verurteilt. Erdogan schickte sogar seine beiden Töchter nach Mersin, um der Familie das Beileid auszusprechen. Davutoglu kündigte eine Initiative gegen Gewalt gegen Frauen an. Für einen kurzen Moment schien es, als habe das Schicksal der jungen Studentin die Türkei geeint. Die Einheit dauerte freilich nicht lange. Erdogan warf den Demonstranten vor, sich über Aslans Tod zu freuen. Wenn sie könnten, sollten sie beten. An die Adresse der «Minirock»-Männer sagte er: «Sollen sie doch für Tops und Miniröcke heulen.» Zugleich wiederholte er die Absicht, eine fromme Generation heranzuziehen.

Fast täglich ein Tötungsdelikt

Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat zwar etliche rechtliche Missstände abgeschafft. So ist Vergewaltigung in der Ehe heute strafbar, und das Strafmass für sogenannte Ehrenmorde wurde erhöht. Kritiker sehen jedoch in der konservativen Familienpolitik der AKP einen der Hauptgründe für die Zunahme der Gewalt gegen Frauen. Die AKP führt dies dagegen auf ein geschärftes Bewusstsein und die Zunahme von entsprechenden Anzeigen zurück.

Im vergangenen Jahr sind fast 300 Frauen ermordet worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Erhebung von Bianet, einer Organisation, die auch ein News-Portal betreibt. Wie im Fall von Emine Yaman stammen die Täter fast immer aus dem nächsten Umfeld. Laut einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom letzten Jahr werden fast die Hälfte der türkischen Frauen Opfer von familiärer Gewalt. In mehr als 60 Prozent der Mordfälle sei der Täter entweder der Ehemann oder ein naher Verwandter, berichtete die Organisation Bianet.

Für Emine Yaman begann das Martyrium schon bald nach ihrer Hochzeit im Jahr 1989, die gegen den Willen ihrer eigenen Familie stattfand. «Wir waren schwer verliebt.» Aber das Glück dauerte nicht lange. Schon nach wenigen Wochen habe ihr Mann sie erstmals geschlagen. Er habe sie als Hure beschimpft und sei mit dem Messer auf sie losgegangen. Mehrmals flüchtete sie ins Elternhaus. Doch auf Drängen der Familie oder der Polizei kehrte sie jedes Mal zu ihrem gewalttätigen Ehemann zurück. Und jedes Mal gelobte dieser Besserung.

Es ist ein Schicksal, das viele Frauen teilen. Gewalt in der Ehe gilt trotz den erwähnten rechtlichen Verbesserungen noch immer in erster Linie als Familienangelegenheit. Mit ihrer konservativen Politik habe die AKP das Problem sogar noch verschärft, sagen Kritiker. Vor einem Monat sorgte der Gesundheitsminister für Empörung, als er sagte, die wichtigste Karriere für Frauen sei die Mutterschaft. Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc riet Frauen vor rund einem Jahr, sie sollten nicht laut lachen, das zieme sich nicht. Präsident Erdogan rät den Frauen, drei oder noch besser fünf Kinder zu gebären. Just nach dem Mord an der Studentin Aslan wiederholte er den Satz, Gott habe die Frauen dem Schutz des Mannes anbefohlen.

Von der Familie verstossen

Emine Yaman hat drei Kinder zur Welt gebracht. Nach der Geburt der jüngsten Tochter verliess sie ihren Mann endgültig. Das behinderte Mädchen, das später verstarb, trug sie im Arm, als ihr Mann sie niederschoss. «Seit mehr als 15 Jahren liege ich hier, und er läuft draussen frei herum», sagt sie. Nach ein paar Monaten Untersuchungshaft kam ihr Mann wieder frei, laut Amnesty International wurde er wegen guter Führung lediglich zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 1200 Franken verurteilt. Das Geld hat Emine Yaman nie bekommen, genauso wenig wie die Scheidung, die sie wünscht. «Wie soll ich vor Gericht erscheinen?»

Die Familie hat Emine Yaman verstossen. Ab und zu schaut eine Schwester bei ihr vorbei, manchmal telefoniert sie mit ihren beiden Kindern. Hilfe bekommt sie freilich nur von ein paar Bekannten. Sie bringen ihr Essen und Trinken, waschen sie und legen ihr frische Windeln an. Aber die meiste Zeit ist sie allein. Allein in einem Zimmer von etwa acht Quadratmetern. Der einzige Kontakt zur Aussenwelt ist der Fernseher. «Im Fernsehen reden sie über Gewalt gegen Frauen. Und was hat sich geändert? Nichts.» Mit einer Stimme, in der sich Zorn und Trauer vermischen, sagt sie: «Das Einzige, was mir geblieben ist, ist meine Stimme.»