Neue Zürcher Zeitung, 04.03.2015 http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/amerikas-fragwuerdige-verbuendete-im-kampf-gegen-den-is-1.18494608 Schiitische Milizen im Irak Amerikas fragwürdige Verbündete im Kampf gegen den IS Inga Rogg, Istanbul Die Fanatiker des Islamischen Staates haben grausame Verbrechen verübt. Nun nehmen die mit Iran verbündeten schiitischen Milizionäre Rache. Die Amerikaner wirken hilflos. Als die Extremisten des Islamischen Staats (IS) im Juni vergangenen Jahres weite Teile des Nord- und Zentraliraks überrannten, traf der damalige Ministerpräsident Nuri al-Maliki eine Entscheidung. Er ernannte den Schiiten Hadi al-Ameri zum Chef der nordöstlich von Bagdad gelegenen Provinz Diyala. Für eine mögliche Aussöhnung mit den Sunniten, aber auch für den iranischen und amerikanischen Einfluss im Irak sollte das weitreichende Konsequenzen haben. Ameri, damals Transportminister, tauschte seinen Anzug gegen die Uniform der Badr-Miliz aus, deren politischer und militärischer Chef er in Personalunion ist. Seitdem ist der 61-Jährige mit dem grauen Stoppelbart vom irakischen Schlachtfeld nicht mehr wegzudenken. Iranische Schützenhilfe Wo immer Armee-Einheiten im Verbund mit schiitischen Milizionären in die Schlacht gegen den IS ziehen, steht Ameri an vorderster Front. Dabei zeigt sich der Iraker auch gerne mit einem anderen Mann: mit Kassem Soleimani , dem Kommandeur der Kuds-Einheiten, die als verlängerter Arm der iranischen Revolutionswächter für Operationen im Ausland zuständig sind. Iran hat Waffen sowohl an die Regierung in Bagdad wie an die Kurden geliefert. Die Rolle von Soleimani haben sowohl die Iraker wie die Iraner bisher eher heruntergespielt. Das hat sich mit der Grossoffensive auf Tikrit geändert. Soleimani sei in Tikrit, um die Operation zu überwachen und die irakischen Truppen zu beraten, berichtete am Montag die Nachrichtenagentur Fars, die den Kuds-Einheiten nahesteht. Zudem hat Iran für die Offensive Waffen geliefert und fliegt Drohneneinsätze. Die Schlacht um Tikrit hat Ameri als «Rache für Camp Speicher» bezeichnet. Der Name der Militärbasis südlich von Tikrit steht für eines der brutalsten Massaker des IS. Die Extremisten hatten 1700 Rekruten verschleppt, die Sunniten liessen sie laufen, während Hunderte von Schiiten Massenhinrichtungen zum Opfer fielen. Viele Schiiten machen für das Kriegsverbrechen den Verrat durch sunnitische Stämme verantwortlich. Darüber hinaus sehen Schiiten in den Tikritis aber auch die Hauptverantwortlichen für die Niederschlagung des schiitischen Aufstands im Jahr 1991, weil viele Offiziere und auch der ehemalige Despot Saddam Hussein von hier stammten. Ministerpräsident Haider al-Abadi hat von den Soldaten und Milizionären gefordert, die Zivilbevölkerung zu schonen. Es ist freilich fraglich, ob seine Worte Gehör finden. Morde an Sunniten Die Verbrechen des IS sind an Grausamkeit kaum zu überbieten. Aber auch die schiitischen Milizionäre haben schwere Verstösse gegen die Menschenrechte begangen. Nach der Vertreibung des IS aus der von schiitischen Turkmenen bewohnen Kleinstadt Amerli südlich von Kirkuk brannten Milizionäre die Häuser von Sunniten nieder und raubten ihren Besitz. Etwa zur gleichen Zeit überfielen Bewaffnete in einem Dorf in der Provinz Diyala eine sunnitische Moschee und erschossen mindestens 68 Betende. In mehreren Dörfern um Mukdadiya, ebenfalls in Diyala, verschleppten Milizionäre Sunniten, deren Leichen man später in Feldern fand. Der Tag des Jüngsten Gerichts sei gekommen, sagte Ameri zum Auftakt einer Operation in Mukdadyia Ende Dezember. Vier Wochen später in einem nahen Dorf fielen 72 sunnitische Zivilisten einem Massaker zum Opfer. Im Grossraum von Bagdad haben die Milizen in den letzten Monaten Zehntausende Sunniten vertrieben. Als sie nach schweren Kämpfen die Kleinstadt Jurf al-Sakher südlich von Bagdad eroberten, nahmen sie Dutzende von Männern fest. Einige der Leichen fand man mit gefesselten Händen. Berichte über die Ermordung von Zivilisten gibt es auch aus der Umgebung von Samarra, Bagdad und selbst im westirakischen, sunnitischen Anbar. Fast immer rechtfertigen die Milizionäre die Morde damit, dass es sich bei den Toten angeblich um IS-Kämpfer handle. Amerikaner im Abseits Die Truppe von Ameri ist keineswegs die einzige, die für Verbrechen an sunnitischen Zivilisten verantwortlich gemacht wird. Im Irak gibt es heute Dutzende von schiitischen Milizen. Zu den schlagkräftigsten gehören dabei Asaib Ahl al-Hakk und Kataib Hisbollah. Zusammen übertreffen sie an Mannstärke die Überreste der irakischen Armee um mindestens das Dreifache. Abadi hat angekündigt, dass die Milizen nach dem Sieg über den IS wieder demobilisiert werden sollen. Bis dahin ist es freilich noch ein langer Weg, und sein Versprechen, eine Nationalgarde aufzubauen, die vor allem sunnitische IS-Gegner rekrutieren soll, scheiterte bereits am Widerstand der Milizen. Ihre politischen Vertreter spielen auf Zeit und verweigern dem entsprechenden Gesetz ihre Zustimmung. Die Fäden der Milizen laufen bei Soleimani zusammen, und sein Mann im Irak scheint Ameri zu sein. Die Badr-Miliz wurde während des Iran-Irak-Kriegs (1980–1988) in Iran gegründet. Viele machen sie für Morde und Folter an ehemaligen Gefolgsleuten von Saddam Hussein verantwortlich. Viele Sunniten in Tikrit hoffen auf eine Niederlage des IS, und einige hundert beteiligen sich an dem Kampf. Doch die grosse Mehrheit fürchtet den Tag danach. Die Amerikaner wirken angesichts
dessen nahezu hilflos. Sie drängen auf Versöhnung und investieren mit
ihren Verbündeten in den Aufbau der irakischen Armee. Darüber hinaus fliegen
sie im Norden Luftangriffe. Von Ausnahmen abgesehen setzen sie die Luftwaffe
aber nicht in Kämpfen ein, in denen die Milizen eine Rolle spielen. Aus
irakischer Sicht begeben sich die USA damit ins Abseits. Dabei geht die
schiitische Propaganda so weit, Washington eine direkte Unterstützung
des IS zu unterstellen. Manche Experten warnen davor, dass die Amerikaner
den Irak an Iran verlieren könnten. Doch faktisch haben sie diesen Kampf
womöglich schon verloren.
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