Süddeutsche Zeitung, 03.03.2015 Wahlkampf in der Türkei Die Osmanen kommen Ist das ernst gemeint - oder
Selbstironie? Im türkischen Wahlkampf präsentieren sich Kandidaten der
Regierungspartei AKP mit Kriegerkappe und Sultansrobe. Geht es nach Präsident
Erdoğan, könnte sich der Osmanen-Trend sogar auf den Schulunterricht auswirken. Ernst blickt Osman Yavuz von der mobilen Plakattafel, auf dem Kopf einen "Börk", einen Fellhut, wie ihn seldschukische Krieger und osmanische Sultane im 14. Jahrhundert trugen. Am 7. Juni wählen die Türken ein neues Parlament, und überall im Land hat der Vorwahlkampf begonnen. Der Unternehmer tourt mit seinem Börk durch die zentralanatolische Provinz Konya, um sich für eine Kandidatur für die Regierungspartei AKP zu empfehlen. Im Netz reichen die Reaktionen auf Yavuz' Kampagne von Begeisterung bis Spott. Eine CNN-Türk-Moderatorin twitterte: "Diese Wahl ist wirklich retro, mein Süßer!" Yavuz räumt ein, dass er vor allem Aufmerksamkeit erregen wolle; immerhin sei Konya einst Hauptstadt des Seldschukenreichs gewesen. Gemessen an der Aufmachung anderer AKP-Bewerber nimmt sich sein Fellhut allerdings dezent aus. Ersin Karababa aus der Provinz Tokat präsentiert sich als Sultan aus dem 17. Jahrhundert, mit bestickter Robe. Und in Ankara hat sich ein Anwärter mit Turban und Riesenschnurrbart zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und First Lady Emine photoshoppen lassen - seinen "geistigen Vater" und seine "geistige Mutter", wie er erklärt. Ist das ernst gemeint - oder Selbstironie? Schon kursieren im Netz falsche Wahlplakate, auf denen Spaßvögel in absurden Osmanen-Outfits posieren. Klar ist: Die Osmanen sind angekommen in der politischen Ästhetik der AKP, Verweise auf die glorreiche Vergangenheit werden gezielt gesetzt. Das neue Wahlkampflied der Partei, das im Dezember vorgestellt wurde, preist Regierungschef Ahmet Davutoğlu als "wahren Enkel der Osmanen". Ausgedacht hat sich das eine Werbeagentur, die dafür ein Volkslied umtextete. So will die Partei ihre religiös-konservative Wählerklientel ansprechen, um im Juni auf eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit zu kommen, die nötig ist, um die Verfassung im Alleingang zu ändern. Zurzeit hält die AKP 327 von 550 Sitzen. Für Kritiker der Regierung sind die Osmanen-Plakate ein weiterer Beleg für die Islamisierung, die von der AKP vorangetrieben werde; für eine Abkehr von den Prinzipien des Staatsgründers Atatürk, der 1923 die laizistische Republik ausrief. Dass Erdoğan vor ein paar Wochen forderte, in türkischen Schulen Osmanisch als Pflichtfach einzuführen, passt da ins Bild. Atatürk hatte 1928 das lateinische Alphabet ein- und eine radikale Sprachreform durchgeführt, aus der das moderne Türkisch hervorging. Mit dem Osmanischen, sagte Erdoğan im Dezember, könnten die Türken wieder Verbindung zu ihren Wurzeln aufnehmen. Ein Autor der Zeitschrift Foreign Affairs kommentierte diesen Vorstoß trocken: Generationen von Schulkindern das Osmanische aufzuzwingen, sei ein sicherer Weg für Erdoğan, seine Popularität einzubüßen. Die Sprache sei "notorisch schwierig". URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlkampf-in-der-tuerkei-die-osmanen-kommen-1.2373911
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