Tiroler Tageszeitung, 09.03.2015

http://www.tt.com/politik/9735683-91/tt-interview-bev%C3%B6lkerung-in-geiselhaft-der-jihadisten.csp

TT-Interview: „Bevölkerung in Geiselhaft der Jihadisten“

Auch im Irak steht die etablierte politische Ordnung vor dem Kollaps. Die TT sprach mit dem Nahost-Experten Walter Posch.

Die irakische Armee und schiitische Milizen holen im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) zum Gegenschlag aus und wollen die im Juni des Vorjahres vom IS eingenommene Stadt Tikrit zurückerobern. Dann soll die IS-Hochburg Mossul folgen. Können die Jihadisten mit einer Großoffensive in die Knie gezwungen werden?

Walter Posch: Die Situation ist eine völlig andere als bei der Rückeroberung der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane. Dort ist der Großteil der Bevölkerung vor den Kämpfen, welche die Stadt komplett zerstört haben, geflüchtet. In der vom IS kontrollierten irakischen Millionenstadt Mossul lebt die verbliebene arabisch-sunnitische Bevölkerung (Christen, Kurden und Schiiten wurden vertrieben) praktisch in Geiselhaft. Viele, die bereits aus der Stadt geflohen waren, wurden unter massiven Drohungen zur Rückkehr gezwungen. Unter diesen Voraussetzungen ist es viel schwieriger, eine Stadt zurückzuerobern. Bei der Offensive zur Befreiung von Tikrit muss die irakische Armee auch erst einmal ihre Schlagkraft unter Beweis stellen. Zudem stoßen die schiitischen Milizen bei der sunnitischen Bevölkerung Tikrits auf wenig Gegenliebe. Auch schiitische Milizen sind für zahlreiche Gräueltaten verantwortlich.

Während die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition sich offenbar noch nicht mit Luftangriffen an der Offensive beteiligt, soll ein hochrangiger Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden als Berater und Beobachter vor Ort sein. Inwieweit ist der Iran im Kampf gegen den IS im Irak involviert?

Posch: Der Iran mischt kräftig mit und hat Spezialeinheiten ins Nachbarland entsandt. Zudem hat der Iran Vertraute in Schlüsselstellungen des irakischen Sicherheitsapparates installiert. Auch mit den irakischen Kurden pflegt man enge Beziehungen und betont, dass der Westen im Kampf gegen den IS auf die Hilfe aus Teheran angewiesen ist.

Die Zukunft des Irak steht in den Sternen. Neben dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten sehen auch die Kurden ihre Zukunft nicht in einem gemeinsamen Staat, vergrößern ihr Einflussgebiet und fordern die Unabhängigkeit. Der Nahe Osten wird politisch neu geordnet. Welches Ziel verfolgt der Westen?

Posch: Es fehlen wohl klare Ordnungsvorstellungen, der Westen weiß in der derzeitigen Situation eigentlich nicht so recht, was er tun soll. Es droht eine weitere Eskalation, eine Eskalation mit Ansage.

Zur Person

Dr. Walter Posch, geboren am 10. Oktober 1966 in Hall in Tirol, studierte Turkologie und Islamkunde in Wien und Istanbul und promovierte über ein historisches Thema im Fach Iranistik in Bamberg. Er arbeitete als Nahostexperte am Europäischen Institut für Sicherheitsstudien in Paris, bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und ist seit Beginn 2015 wieder an der Landesverteidigungsakademie in Wien tätig.