Der Standard, 13.03.2015

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Syrien: Wie vier Jahre Krieg das Land zerstörten

Teresa Eder, Noura Maan, Michaela Kampl

Die Lebenserwartung im Land ist seit Beginn des Konflikts um 20 Jahre gesunken, Wirtschaft und Bildungssektor liegen brach

Vier Jahre tobt der Bürgerkrieg in Syrien bereits, und immer noch ist kein Ende der Gewalt in Sicht, ganz im Gegenteil: Syrien erlebte vergangenes Jahr das blutigste Jahr seit Konfliktbeginn – 76.000 Menschen seien im Jahr 2014 getötet worden, mehr als ein Drittel der insgesamt 220.000 Toten der vierjährigen Gewalt. Die Zahl der kaum zu erreichenden Hilfsbedürftigen hat sich auf 4,8 Millionen erhöht. 5,6 Millionen Kinder seien auf Hilfe von außen angewiesen, fast ein Drittel mehr als im Vorjahr.

Chinesische Forscher verdeutlichen den Rückschritt, den das Land durchgemacht hat, mittels nächtlicher Satellitenbilder. Seit Beginn des Krieges gibt es während der Nacht um 83 Prozent weniger Beleuchtung vom Weltall aus zu sehen. Damit würden der Grad der Zerstörung, die Flucht der Menschen und Energieausfälle sichtbar gemacht werden, so Xi Li von der Wuhan-Universität.

Am deutlichsten sichtbar wird die Zerstörung rund um Aleppo, wo es nun abends de facto dunkel bleibt. In Städten, die nach wie vor vom syrischen Regime gehalten werden, wie etwa der Hauptstadt Damaskus, ist der Unterschied nicht so stark auszumachen.

52 Prozent der syrischen Bevölkerung haben in den vergangenen vier Jahren ihre ursprüngliche Heimat verlassen müssen, heißt es in einem Anfang März veröffentlichten Bericht des Syrian Centre for Policy Research (SCPR). 7,6 Millionen blieben als Binnenflüchtlinge im Land, 3,7 Millionen suchten bis dato den Weg über die Grenze.

Die stärkste Last tragen diesbezüglich die Türkei und der Libanon. Die Türkei hat den Libanon als Aufnahmeland mit der höchsten Anzahl an Flüchtlingen im Jahr 2014 überholt, vor allem weil die IS-Terrormiliz im Norden Syriens an Territorium gewann.
50 Prozent der Kinder gehen nicht in die Schule

Zwei Drittel der Syrerinnen und Syrer leben in extremer Armut und kämpfen um das tägliche Überleben. Gleichzeitig besuchen 50,8 Prozent aller Kinder im Schulalter keine Bildungseinrichtung mehr, wobei hier ein besonders starkes Gefälle zwischen den Konfliktregionen und den ruhigeren Gebieten zu erkennen ist. 28 Prozent der Schulen dürften laut Schätzungen geschlossen sein, großteils wurden sie auch zerstört.

Besonders eindrücklich zeigt der 27-prozentige Rückgang der Lebenserwartung die Folgen des Konflikts. Durch die vielen Toten und Verletzten sowie andere Faktoren lebt man in Syrien nun durchschnittlich nur mehr 55,7 Jahre. 2010 waren es noch 75,9 Jahre.

Die wirtschaftliche Situation Syriens hat sich seit Ausbruch des Bürgerkrieges massiv verschlechtert. Mit der zunehmenden Ausweitung der gewalttätigen Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren ist auch die Verschiebung von Ressourcen in Richtung der Kriegsmaschinerie einhergegangen.

Ablesbar ist der Niedergang der syrischen Wirtschaftsleistung besonders gut an der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das BIP misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Land innerhalb eines Jahres produziert werden. Während vor dem Kriegsbeginn noch eine positive Entwicklung prognostiziert wurde, gab es seit 2010 eine kontinuierliche Verringerung des BIPs. Laut dem Bericht des Syrian Centre for Policy Research hat sich das syrische BIP seit 2010 um 383 Prozent verringert.
Lebenshaltungskosten gestiegen

Auch private wie öffentliche Investitionen sind gesunken bzw. kaum gestiegen, Konsum – öffentlicher und privater – ist ebenfalls zurückgegangen. Der Rückgang an privatem Konsum ist auf das geringere Haushaltseinkommen zurückzuführen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die syrische Regierung Förderungen von vielen Waren zurückgenommen hat, um die staatlichen Kassen wieder zu füllen. Das führt allerdings in weiterer Folge zur Steigerung der Lebenshaltungskosten in einer ohnehin schon massiv von Armut betroffenen Gesellschaft.

Auch die Einkünfte Syriens sind massiv gesunken, darunter vor allem jene durch das Ölgeschäft. Auch die Steuereinnahmen durch private Firmen sind stark rückläufig.

Müßig zu sagen, dass der Bürgerkrieg natürlich auch den Arbeitsmarkt massiv beeinflusst. Potenziell produktive Fertigkeiten besonders unter der jungen Bevölkerung fließen in die Kriegsmaschinerie und damit Richtung Gewalt und Zerstörung. Nur knapp über 20 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind beschäftigt – im Jahr 2010 lag die Beschäftigungsquote noch bei 36 Prozent. Die Arbeitslosenrate ist seit 2011 von 14,9 Prozent auf 53 Prozent im Jahr 2013 gestiegen.
Ausbildungsniveau erschwert Wiederaufbau

Die zusätzlich sinkende Zahl an formalen Arbeitsplätzen drängt die syrische Bevölkerung immer weiter in den informellen Sektor, wie kleine Werkstätten oder Mikrounternehmen, die ihre Dienste auf der Straße anbieten. Das führt dazu, dass mehr und mehr Menschen als ungelernte Arbeiter ihr Auslangen zu finden versuchen. Was in weiterer Folge das Ausbildungsniveau der Erwerbsbevölkerung weiter senkt und den Wiederaufbau einer Nachkriegsgesellschaft erheblich erschweren kann.

Wie unmöglich auch die medizinische Versorgung im Land geworden ist, verdeutlicht die hohe Anzahl an toten medizinischen Helfern. Insgesamt 610 sollen laut einem Bericht von "Ärzte für Menschenrechte" (PHR) ums Leben gekommen sein. 233 Anschläge auf 183 medizinische Zentren in ganz Syrien wurden verübt. Das medizinische Personal werde gezielt zum Opfer gemacht und die große Mehrheit der Anschläge (88 Prozent) wurde bis dato vom syrischen Regime ausgeübt. Die Gewalt gegen die Mediziner sei ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wird im Bericht geurteilt. (maa, mka, tee, derStandard.at, 13.3.2015)

Bericht: Doctors in the Corsshairs: Four Years of Attacks on Health Care in Syria

Bericht des Syrian Centre for Policy Research: Syria - Alienation and Violence. Impact of Syria Crisis Report 2014

Das Zahlenmaterial für den Bericht des Syrian Centre for Policy Research stammt vom syrischen Statistikbüro, einigen Ministerien, der Zentralbank und UN-Stellen. Zusätzlich sind Interviews mit Experten und lokalen Informanten in den Bericht eingeflossen.