Neue Zürcher Zeitung, 17.03.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/ankaras-kurdenpolitik-im-sog-des-syrischen-buergerkriegs-1.18503469

Die Folgen von Kobane

Ankaras Kurdenpolitik im Sog des syrischen Bürgerkriegs

Inga Rogg, Suruc

Die türkische Regierung hat auf die Isolierung der syrischen Kurden gesetzt. Mit dieser Politik ist sie gescheitert. Das hat auch Konsequenzen für den «Friedensprozess» mit den Kurden im eigenen Land.

Dicke Rauchschwaden hängen in der Luft. Flink stellt ein Angestellter kleine Gläser mit dampfend heissem Tee auf den mit Zeitungen und Papierstapeln überhäuften kleinen Tisch. Der Andrang in der Stadtverwaltung von Suruc ist so gross, dass der Kellner mit der Bewirtung kaum nachkommt. Abgeordnete, Bürgermeister oder Aktivisten, und wem immer die Sache der Kurden am Herzen liegt, geben sich in diesen Tagen ein Stelldichein. Und das hat vor allem einen Grund: Kobane.

Symbol der Einheit

Bis vor ein paar Monaten hatten selbst die meisten Kurden noch nie etwas von Kobane (Ain al-Arab) gehört. Der Kampf gegen die Extremisten des Islamischen Staats (IS) hat dies verändert. Im fernen Istanbul gehören Lieder über Kobane heute ganz selbstverständlich zum Repertoire der kurdischen Strassenmusiker auf der berühmten Einkaufsstrasse Istiklal. Für die Kurden ist die Stadt nicht nur das Symbol für einen heroisch errungenen Sieg über den IS, sondern auch für ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Grenzen, die vor fast hundert Jahren gezogen wurden, hinter sich lässt.

«Für uns sind Grenzen bedeutungslos», sagt Abdullah Demirbas. «Wir akzeptieren sie schlicht nicht.» Sätze wie die des ehemaligen Bürgermeisters eines Bezirks der Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei sind in den verrauchten Amtsstuben von Suruc politisches Allgemeingut. Das sollte die türkische Regierung hellhörig machen, denn sie zeigen, wie der Konflikt in Syrien immer mehr auch die Türkei erfasst. Doch Ankara wirkt zusehends hilflos. Statt die Politik zu gestalten, wirken Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wie Getriebene, die spät und halbherzig auf die Entwicklungen im Nachbarland reagieren.

Lange Zeit haben Erdogan und Davutoglu einseitig auf den Sturz des Regimes von Bashar al-Asad gesetzt. Den Kampf gegen den IS sahen sie eher als Nebenschauplatz, der sich nur gewinnen lässt, wenn auch das Regime gestürzt wird. Unablässig kritisieren sie, dass es den Amerikanern und deren Verbündeten an einer umfassenden Syrien-Strategie fehlt. Trotz allem Grossmachtgetöse ist Ankara aber auch nicht zu einem Alleingang bereit, um etwa den geforderten humanitären Korridor nach Aleppo einzurichten. Aber nicht nur das: Das Taktieren gegenüber dem IS und die Weigerung, den Amerikanern die Nutzung der Luftwaffenbasis Incirlik für Angriffe auf die Extremisten zu erlauben, haben im Westen den Eindruck verstärkt, Ankara sei ein unzuverlässiger Bündnispartner.

Zwei Seiten einer Medaille

Am Ziel, Asad zu stürzen, orientierte sich auch die Politik Ankaras gegenüber den syrischen Regimegegnern. Deshalb unterstützte die Regierung nicht nur sogenannte moderate Rebellengruppen, sondern nahm auch das Treiben von radikalen Islamisten hin. Der Partei der Demokratischen Union (PYD), der stärksten Kraft unter den schätzungsweise 1,5 Millionen syrischen Kurden, zeigte Ankara hingegen die kalte Schulter. Eine Initiative, Gespräche mit der Führung der PYD zu suchen, verlief im Sand. Stattdessen setzt Ankara auf die Isolierung der Kurdenpartei. Selbst die Belagerung von Kobane durch den IS änderte daran nichts. Damit bestärkte die Regierung den Verdacht unter den Kurden, sie mache gemeinsame Sache mit dem IS. Dass staatliche türkische Spitäler mehrere hundert Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) behandelt haben und Ankara humanitäre Transporte bewilligte, ändert daran für die Politiker und Aktivisten in Suruc nichts.

Zwei Seiten ein und derselben Medaille nennt Demirbas den IS und die in der Türkei regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). «Wir wollen, dass Türken und Kurden, Aleviten, Muslime, Juden und Christen gleichberechtigt leben können», sagt er. «Erdogan will dagegen ein Diktat der Türken und des sunnitischen Islam.»

Öcalans Friedensappell

Es war die AKP unter Erdogan, die den türkischen Kurden mehr Rechte einräumte. Seit gut zwei Jahren führt sie auch Gespräche mit Abdullah Öcalan, dem auf der Marmara-Insel Imrali inhaftierten Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). An Newroz 2013, dem kurdischen Neujahrsfest, hatte Öcalan die PKK zum Rückzug aus der Türkei aufgefordert. Nun hat er nachgelegt und die Rebellen zum Gewaltverzicht aufgerufen. Die PKK solle im Frühjahr einen Kongress einberufen, um das Ende des bewaffneten Kampfes zu beschliessen, erklärte Öcalan Ende Februar.

Das Besondere an der Erklärung war, dass sie von einem Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der parlamentarischen Vertretung der Kurden, im Beisein von Regierungsvertretern verlesen wurde. Der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan sagte anschliessend, der «Friedensprozess» habe eine historische Phase erreicht. Mehr ist von der Regierung freilich nicht zu erfahren.

Die PKK-Führung in den nordirakischen Kandil-Bergen hat auf Öcalans Appell kühl reagiert. Sie halte sich an den Waffenstillstand, die AKP mache dagegen vor Wahlen Versprechungen, die sie dann nicht einhalte. Nun sei sie am Zug. Öcalan selber hat den Friedensappell an zehn Bedingungen geknüpft, die im Grunde genommen nur bekräftigen, was er bereits vor zwei Jahren erklärte und was die Kurden seit langem fordern: mehr Autonomie- und Freiheitsrechte, einen neuen Staatsbürger-Begriff und eine neue Verfassung, in der die Rechte verankert sind.

Der Reformwille Erdogans und der AKP ist freilich seit langem erlahmt. Statt die Demokratisierung des Landes voranzutreiben, haben sie den Rückwärtsgang eingelegt. Ausdruck davon ist nicht zuletzt das heftig umstrittene Sicherheitsgesetz, das die AKP just auf den Weg brachte, als die Kurden gegen die türkische Blockade auf der Strasse nach Kobane protestierten. Mehr als dreissig Demonstranten verloren bei den Ausschreitungen Anfang Oktober ihr Leben. Das Gesetz sieht unter anderem eine Stärkung der von der Regierung eingesetzten Gouverneure vor. Diese könnten die gewählten Kommunalvertretungen faktisch entmachten – ein probates Mittel, um unter anderem gegen unangenehme, von Kurden dominierte Stadtverwaltungen im Südosten der Türkei vorzugehen. Es wäre ein Rückfall in die neunziger Jahre. Dabei verkennt Erdogan, dass sich die Kurden heute noch weniger in die Knie zwingen lassen als damals. Die PKK ist so stark wie seit Jahren nicht mehr, und das nicht zuletzt wegen des Konflikts in Syrien.

Die Ideale von «Rojava»

Seitdem sich das Asad-Regime im Sommer 2012 aus den kurdischen Gebieten zurückzog, hat dort die PYD, der syrische Ableger der PKK, drei Kantone aus dem Boden gestampft. In «Rojava» oder Westkurdistan, wie die Kurden die Kantone nennen, setzt die PYD erstmals das von Öcalan und der PKK proklamierte Ziel einer «Demokratie der Gesellschaften» um. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine Mischung aus Basisdemokratie und sozialistischer Utopie, in der Frauen sowie ethnische und religiöse Minderheiten gleichberechtigt sind und die Umwelt geschützt wird. Öcalan, dessen Fahnen überall wehen, ist in dieser Welt so etwas wie der Säulenheilige.

Sprachen die Kurden in der Türkei früher vor allem von mehr Rechten, lautet das Schlagwort heute «Rojava». Damit scheint die Saat der PKK aufzugehen. Sie hatte als erste Partei eine pankurdische Strategie verfolgt, indem sie Kämpfer und Kämpferinnen nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien, Iran und dem Irak rekrutierte. Aus diesen gingen später unter anderem die PYD und deren bewaffneter Arm, die Volksverteidigungseinheiten, hervor. In Kobane kämpften auch türkische Kurden. In der Nähe von Suruc gibt es für sie einen eigenen Friedhof mit mehr als sechzig Gräbern.

Das gleiche System wie in Syrien müsse auch in der Türkei verwirklicht werden, sind sich die in Suruc versammelten Politiker und Aktivisten einig. Für Demirbas und seine Mitstreiter ist die Einheit der Kurden längst vollzogen: «Rojava ist ein Teil von uns. Die Türkei muss das anerkennen.» Erdogan hat die Anerkennung eines autonomen kurdischen Teilstaats in Nordsyrien indes kategorisch abgelehnt.

Zumindest indirekt hat Ankara kürzlich aber mit der PYD kooperiert, als türkische Truppen in Syrien einmarschierten, um vom IS eingeschlossene Kameraden zu evakuieren und die Gebeine des Urahns der Osmanen zu bergen. Über die Einzelheiten der Militäraktion machten beide Seiten widersprüchliche Angaben. Klar ist jedoch, dass sie in einem Fiasko geendet hätte, wäre sie von den kurdischen Kämpfern nicht toleriert worden. So sah es auch ein Kommentator in einem Beitrag für Erdogans Kampfblatt «Yeni Safak». Darin ging der Autor, Abdülkadir Selvi, sogar so weit, sich für ein Bündnis zwischen Türken und Kurden auszusprechen. Dies wäre nicht nur für die Türkei, sondern für die gesamte Region ein Gewinn, schreibt Selvi. Aber eine Öffnung der Grenze nach Kobane oder gar ein radikaler Kurswechsel gegenüber den syrischen Kurden, wie ihn Demirbas fordert, ist derzeit nicht in Sicht. Im Juni finden in der Türkei Parlamentswahlen statt. Dabei setzt die AKP auch auf Stimmen aus dem nationalistischen Lager, das Zugeständnisse an die Kurden gerne als Spaltung der Nation geisselt. Derzeit ist es freilich der Mangel an erkennbaren Fortschritten im «Friedensprozess», der die Kluft vertieft. Zwar haben AKP und HDP mit ihrem gemeinsamen Auftritt und der Erklärung Öcalans signalisiert, dass sie den eingeschlagenen Weg fortsetzen wollen. Aber die Stimmen mehren sich, die fragen, was nach der Wahl passiert. Zu dieser tritt die HDP erstmals als Partei an. Der Schritt ist angesichts der hohen Zehn-Prozent-Hürde riskant; früher hatten kurdische Parteien diese umschifft, indem sie mit unabhängigen Kandidaten antraten.

Sollte die HDP an der Hürde scheitern, bekäme die AKP die parlamentarische Mehrheit, die sie braucht, um das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem zu verwirklichen. Es wäre das Ende der von den Kurden geforderten Demokratisierung, darin sind sich liberale Kommentatoren einig. Manche warnen vor einem neuerlichen Aufflammen des Bürgerkriegs, der mehr als 40 000 Tote gefordert hat.

Weniger Staat, mehr Freiheit

In Suruc sieht man die Gefahren einer solchen Entwicklung erstaunlich gelassen. «Entweder weitet Erdogan die Freiheitsrechte aus, oder wir setzen unser Projekt um», sagt Demirbas, der für die HDP zu den Parlamentswahlen antritt. Und dieses Projekt heisst hier «Rojava». Im Klartext bedeutet dies: kulturelle, aber auch politische, wirtschaftliche und rechtliche Autonomie.

Real existiert die Grenze zwischen Syrien und der Türkei bei Suruc weiterhin. Zwischen vielen Tassen Tee und vielen Zigaretten beteuert jeder, dass sich daran nichts ändern solle. In den Köpfen ist die Grenze aber bereits gefallen. «Wir wollen keine neuen Grenzen», sagt Demirbas, einer der wenigen Nichtraucher im Raum. «Was wir wollen, ist weniger Staat und mehr Macht für die Menschen.»