FAZ, 16.03.2015

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Krieg in Syrien

Eine neue Front auf dem Golan

Vier Jahre nach Beginn des Syrien-Konflikts stehen sich auf den Golanhöhen iranische Generäle und Soldaten aus Israel unmittelbar gegenüber – mit unabsehbaren Folgen.

von Markus Bickel, Beirut

Seine Familie habe es schon vor fast zwei Jahrzehnten nicht mehr an der Grenze zu Israel ausgehalten, sagt Muhammad Ashaab. Aus Schebaa, einer kleinen libanesischen Gemeinde im Dreiländereck mit Syrien und Israel, brach er in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern auf, um am Rande der Hauptstadt Beirut ein Leben fernab von Bombenanschlägen und Raketenangriffen zu führen. Zehn Jahre alt war er damals, doch eines hat sich aus Sicht des heute 28 Jahre alten Ingenieurs seitdem nicht geändert: „Der Krieg wird immer weitergehen, mal hier, mal dort“, sagt er. „Ab und an wird er stoppen, nur um an anderer Stelle weiterzugehen.“

Ashaab ist Mitglied der Syrischen Sozialistischen Nationalpartei (SSNP), die in dem südlich Beiruts gelegenen Vorort Schweifat, wo Ashaab arbeitet, über viele Anhänger verfügt. Seine Sichtweise auf den Konflikt bewahrheitet sich dieser Tage einmal mehr: Vergangene Woche rückten israelische Soldaten über die von den Vereinten Nationen markierte Blaue Linie auf das Gebiet der Schebaa-Farmen vor und feuerten auf libanesische Soldaten. Nur wenige Stunden später wurde ein paar Kilometer weiter südöstlich, auf den Golanhöhen, ein israelischer Soldat durch Schüsse verletzt.

Eine neue Front im syrischen Bürgerkrieg machen Angehörige westlicher Sicherheitsdienste in Beirut aus. Neue Angriffe der libanesischen Hizbullah von der Nordgrenze Israels fürchten auch Politiker und Militärs in Jerusalem und Tel Aviv. Vier Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Syriens Diktator Baschar al Assad ist im Südwesten Syriens ein weiterer Kriegsschauplatz entstanden, der das Potential birgt, sowohl den Libanon wie Israel noch stärker als bislang in den Konflikt im Nachbarland hineinzuziehen – mit unabsehbaren Folgen.

Freie Syrische Armee wird in Jordanien ausgebildet

Anders als in den kurdischen Gebieten an der Grenze zur Türkei und zu Irak, wo sich die Selbstverteidigungseinheiten (YPG) des syrischen Ablegers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit Ende 2013 Gefechte mit der sunnitischen Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) liefern, ist der Konflikt im Südwesten Syriens einer mit geopolitischen Dimensionen: Iranische Generäle sind hier Seite an Seite mit Kommandeuren der Hizbullah präsent, um die Auseinandersetzung mit Israel auf eine neue Stufe zu treiben. Rund 3000 syrische Soldaten und etwa 200 Kämpfer der schiitischen „Partei Gottes“ unter Generalsekretär Hassan Nasrallah seien an der Offensive beteiligt, heißt es in Sicherheitskreisen in Beirut und Damaskus. Sie sollen die Gegend zwischen Daraa, wo der Aufstand gegen Assad 2011 begann, Quneitra auf den Golanhöhen und den syrischen Gemeinden südöstlich von Schebaa unter ihre Kontrolle bringen.

Ziel der Offensive, die im Februar begann, ist es, die Nachschubwege für Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA), aber auch der Nusra-Front abzuschneiden. Neben dem Libanon und der Türkei, die eine direkte Linie zu den Aufständischen in Aleppo und Idlib im Nordwesten Syrien unterhält, bildet Jordanien das wichtigste Rückzugsgebiet der Assad-Gegner. Auch die Ausbildung von Tausenden FSA-Kämpfern, die Amerikas Präsident Barack Obama im vergangenen Herbst verkündete, soll in dem haschemitischen Königreich stattfinden.

Schiiten gegen Sunniten

Vier Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Assad könnten die 1967 von israelischen Truppen eroberten und 1981 völkerrechtswidrig annektierten Golanhöhen zum neuen Brennpunkt des Syrien-Krieges werden, der seit 2011 mehr als 220.000 Tote gefordert hat. Der israelische Angriff auf ein gemeinsames Kommando von hohen Hizbullah-Kommandeuren und den General der iranischen Revolutionsgarden, Mohammed Allahdadi, machte im Januar nicht zum ersten Mal deutlich, welches Eskalationspotential in dem Konflikt im Dreiländereck steckt: Sollte es der iranisch-libanesischen Schiitenallianz gelingen, sich in der Gegend um Quneitra, Beit Dschinn und Maschdal Shams dauerhaft festzusetzen, brauchte es nicht einmal mehr die in Tunneln im Südlibanon versteckten Langstreckenraketen, um israelische Städte anzugreifen.

Israel reagiert auf das Einsickern iranischer und libanesischer Einheiten auf den Golan – offenbar arbeitet die Führung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu an der Einrichtung einer Pufferzone, die das Land vom zunehmenden Chaos in Syrien abschotten soll. Über Jahrzehnte hatten Hafez al Assad und nach dessen Tod im Sommer 2000 sein Sohn Baschar für eine Waffenruhe auf den Golanhöhen gesorgt. Damit ist es spätestens seit dem Einsickern von Oppositionsmilizen in der ersten Jahreshälfte 2014 vorbei. Aufgeschreckt durch die wachsende Präsenz des syrischen Al-Qaida-Ablegers Nusra-Front sind seitdem jedoch nicht nur israelische Militärs: Weil die sunnitischen Dschihadisten in den an die Golanhöhen angrenzenden Schebaa-Farmen breite Unterstützung genießen, sieht sich die Hizbullah im Süden der von ihr kontrollierten Bekaa-Ebene zunehmend durch die Extremisten der Nusra-Front bedroht.

Nach israelischem Drohnenangriff eskalierte die Lage

So wie im Südlibanon, wo nach dem israelischen Einmarsch 1978 Einheiten des christlichen Milizenführers Saad Haddad das Gebiet südlich des Flusses Litani gegen Angriffe von schiitischen Vorgängerorganisationen der Hizbullah verteidigten, sollen nun syrische Oppositionsgruppen den Golan gegen ein weiteres Einsickern der iranischen Stellvertreterarmee an den Grenzen zu Israel abschotten. Dass darunter der syrische Ableger Al Qaidas, die Nusra-Front, ist, nimmt man in Israel offenbar billigend in Kauf: Der Glaube, die Kräfte auf der syrischen Seite des Golans beeinflussen oder sogar kontrollieren zu können, sei in Jerusalem weit verbreitet, heißt es von Mitarbeitern der Vereinten Nationen.

Schon seit vergangenem Sommer war es immer wieder zu bewaffneten Konfrontationen in den teils von Angehörigen der Vereinten Nationen kontrollierten, teils von israelischen Soldaten oder islamistischen Gruppen beanspruchten Gebieten des Dreiländerecks gekommen. Im Januar dann eskalierte die Lage, als ein Kommando von Hizbullah-Kämpfern gemeinsam mit iranischen Revolutionsgardisten von einer israelischen Drohne getötet wurde. Als die Hizbullah kurze Zeit später auf den von Israel besetzten Scheeba-Farmen Vergeltung übte und zwei israelische Soldaten tötete, fürchteten viele bereits einen abermaligen Libanon-Krieg. Der hatte im Juli 2006 mit der Entführung von zwei israelischen Soldaten begonnen.

Unterstützt Israel die Nusra-Front?

Zwar konnte eine Eskalation vermieden werden, doch die Kampfzone weitete sich seitdem aus: Bereits im vergangenen September mussten sich die Soldaten der UN-Beobachtergruppe zur Truppenentflechtung (Undof) fast vollständig aus ihren Gebieten auf die israelische Seite der Golanhöhen zurückziehen. Zuvor hatten syrische Oppositionsgruppen das Hauptquartier der UN-Truppe angegriffen und 45 Undof-Mitglieder entführt. Dass Kämpfer der sunnitischen Nusra-Front über die Grenze geschafft und in israelischen Krankenhäusern versorgt wurden, ist inzwischen längst kein Geheimnis mehr. Unter westlichen Militärs in Beirut kursieren zudem Fotos, die zeigen, wie israelische Soldaten Angehörige des syrischen Ablegers Al Qaidas mit Waffen ausstatten. Die Übergabe mehrerer „Kisten“ an Kämpfer der Nusra-Front durch israelische Einheiten bestätigte sogar UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in einem Bericht an den Sicherheitsrat.

Dass die Hizbullah nun auf syrischem Territorium näher an den von Israel besetzten Süden der Golanhöhen heranrückt, könnte auch dem Kalkül geschuldet sein, die Konfrontation außerhalb der libanesischen Staatsgrenzen fortzuführen. Da die Regierung in Jerusalem die Schebaa-Farmen als syrisches Territorium betrachtet, bleibt der Konflikt vorerst begrenzt. Die anhaltende Aufrüstung sei dennoch ein „Spiel mit dem Feuer“, heißt es in Beirut: Bereits nach den Wahlen in Israel könnten Rufe laut werden, die wachsende Präsenz der Hizbullah auf den Golanhöhen militärisch zu beenden.

Mit Rückendeckung des Assad-Regimes

Die schleichende Ausweitung der von Iran finanzierten Parteimiliz und verbündeter irakischer Schiitenmilizen folgt einem Muster, das sich auch in anderen Teilen Syriens beobachten ließ: Ende 2012 entsandte die Hizbullah zunächst Kämpfer in schiitische Dörfer östlich der Bekaa-Ebene, ohne dass die Führung um Generalsekretär Nasrallah sich dazu bekannte. Auch in Damaskus war die Organisation früh präsent, um den schiitischen Sayda-Zeynab-Schrein zu schützen. Im vergangenen Jahr weitete Nasrallah das Engagement auf Seiten des Regimes dann aus: Die Rückeroberung der Grenzstadt Qusair und mehrerer Dörfer im Qalamun-Gebirge wären ohne Hilfe der Hizbullah nicht gelungen.

Nasrallahs Beteiligung an der Militäroffensive im Süden des Landes dient aber nicht nur den Interessen Assads. Da Angehörige der sunnitischen Nusra-Front von den Golanhöhen zuletzt verstärkt in den Libanon eingesickert sind, will die schiitische Parteimiliz die Dschihadisten offenbar aus ihrem libanesischen Hinterhof vertreiben. Neues Ziel der „Partei Gottes“ sind die mehrheitlich von Sunniten besiedelten Gebiete um Schebaa, vermutet auch Muhammad Ashaab, der seine Heimat im umkämpften Dreiländereck schon vor gut zwei Jahrzehnten verließ. Damals waren auch Angehörige seiner Partei, der SSNP, am Kampf gegen die israelische Besatzung beteiligt. Doch dem machte die Hizbullah ein Ende, indem sie sich zur einzigen libanesischen Widerstandskraft erklärte – mit Rückendeckung des Assad-Regimes in Damaskus. Gute Gründe, sagt der junge Familienvater Muhammad Ashaab, um der Region um Schebaa für immer den Rücken zu kehren.