Der Standard, 19.03.2015

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Türken feiern Gallipoli-Schlacht

Markus Bernath

100 Jahre Schlacht gegen Alliierte, 100 Jahre Völkermord an Armeniern: Ankara feiert das eine, stellt das andere in Abrede

Çanakkale/Athen - Ali Seyit, der allen Türken als Seyit Onbasi bekannt ist, der Unteroffizier Seyit, hat die Aktion mit dem 275 Kilo-Geschoß nicht mehr wiederholen können, als es Jahre später darum ging, seine militärische Heldentat nachträglich auf ein Fotopapier zu bringen. Für die Aufnahme hat Seyit Onbasi dann eben eine Holzattrappe gehalten, hinter dem Rücken, mit beiden Armen umklammert, so wie er es am 18. März 1915 getan haben soll, als die Flotte der Alliierten durch die Dardanellen hindurch zum Sturm auf Konstantinopel ansetzen wollte.

Seyits Artilleriegeschütz hatte einen Defekt und musste manuell geladen werden. Der Hüne mit dem riesigen Bleigeschoß auf dem Rücken taucht in allen historischen Nachstellungen der Schlacht von Gallipoli auf. Es ist der Tag der wackligen Schwarz-Weiß-Filme auf den türkischen Kanälen. Am Mittwoch feierte die Türkei den 100. Jahrestag der Schlacht im Ersten Weltkrieg, die wie keine andere das Nationalbewusstsein der modernen Türkei geprägt hat: Unterlegen in Zahl und Ausrüstung schlugen die osmanischen Truppen zuerst am 18. März 1915 den Angriff der britischen und französischen Flotte zurück, dann auch die Landung der Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli an den Dardanellen, der Meeresenge zwischen Ägäis und Marmarameer, die einen Monat später, im April 1915 begann.

"Ewige Brüderlichkeit"

Regierungschef Ahmet Davutoglu, selbst ein Politikwissenschafter, der für seine neoosmanischen Großmachtideen bekannt ist, feierte die verlustreiche Schlacht in seiner Rede in Çanakkale, der Stadt an der Meeresenge, als ein Monument der Brüderlichkeit, nationalen Einheit und Solidarität. "Jene, die aus allen Ecken unseres Landes kamen und den Weg des Märtyrertums beschritten, säten die Saat ewiger Brüderlichkeit von dieser Zeit an für unser Heimatland", sagte Davutoglu mit großem Pathos. Seine Worte waren auf die laufenden Verhandlungen des türkischen Staats mit der offiziell weiter verbotenen kurdischen Untergrundarmee PKK gemünzt.

Der türkische Premier nutzte den Gedenktag an die Schlacht mit den auf beiden Seiten insgesamt vielleicht 250.000 Toten auch, um trotzig weiter den Sturz von Bashar al-Assad im benachbarten Bürgerkriegsland Syrien zu fordern: "Tyrannen überall auf der Welt werden niemals einen Augenblick des Friedens haben, solange wir atmen. Der anatolische Boden, den wir von euch geerbt haben, wird immer das Zufluchtsland der Unterdrückten sein." Die Türkei beherbergt mittlerweile an die zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Ankara reagierte erbost auf die jüngsten Erklärungen von US-Außenminister John Kerry zu möglichen Verhandlungen mit Assad.

Mit der Idee von der "Brüderlichkeit" auf Gallipoli will sich die offizielle Türkei einer geschichtlichen Wahrheit nähern – ein großer Teil der damaligen osmanischen Soldaten in der Schlacht sollen Araber gewesen sein, nicht Türken. Sie stößt aber mit einem anderen historischen Ereignis zusammen: dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Auch er jährt sich nun zum 100. Mal. Am Gedenktag, dem 24. April 1915, wurden die führenden Köpfe der armenischen Gemeinde in Konstantinopel verhaftet. (Markus Bernath, DER STANDARD, 19.3.2015)