Die Presse, 23.03.2015

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Zweifel an Zukunft des türkisch-kurdischen Friedens wachsen

Während PKK-Chef Öcalan am Wochenende neue Friedenssignale sandte, steigt der Präsident auf die Bremse und brüskiert sogar seine Regierung. Vielleicht will Erdoğan vor der Parlamentswahl im Juni nur den Nationalisten geben. Vielleicht aber fürchtet er auch den Frieden.

Von unserer Korrespondentin SUSANNE GÜSTEN (Die Presse)

Istanbul. Ein neuer Friedensappell des inhaftierten Rebellenchefs Abdullah Öcalan hat am Wochenende eine Beilegung des Kurdenkonflikts in der Türkei in greifbare Nähe rücken lassen: Der bewaffnete Kampf der von ihm gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sei nicht mehr zeitgemäß und „nicht durchzuhalten“, sagte Öcalan anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz am Samstag.

Doch während Öcalan seinen Friedenswillen betont, tun sich zwischen dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner eigenen Regierung in Ankara tiefe Risse auf: Erdoğan stellt nämlich Kernpunkte des Friedensplans infrage.

Öcalan hatte bereits beim Newroz-Fest vor zwei Jahren einen Waffenstillstand ausgerufen, der die Kämpfe in Südostanatolien nach rund 30 Jahren beendete. Im Rahmen von Friedensgesprächen, die seit Ende 2012 laufen, fordert Öcalan nun den nächsten Schritt von Ankara: In einer Botschaft, die vor rund einer Million Teilnehmern einer Newroz-Feier im südosttürkischen Diyarbakir verlesen wurde, stellte der PKK-Chef erneut eine Entwaffnung der Rebellen in Aussicht. Bedingung sei die Umsetzung eines Zehnpunkteplans, der Ende Februar von Kurdenpolitikern und der Regierung präsentiert worden war und der Forderungen nach demokratischen Reformen und Pluralismus enthält. Die Kurden fordern mehr Selbstverwaltung und die Freilassung von Öcalan, der seit 1999 im Gefängnis sitzt.

Weniger als drei Monate vor der Parlamentswahl am 7. Juni zeigt sich Präsident Erdoğan indes abweisend: Mehrmals bezweifelte er zuletzt, dass es überhaupt ein Kurdenproblem gebe – alle Schwierigkeiten seien doch inzwischen beseitigt. Er kritisierte auch das Treffen von Kurden und Regierung vom Februar sowie den Zehnpunkteplan. Zudem wandte er sich gegen die Bildung einer unabhängigen Beobachtergruppe für den Friedensprozess. In seiner neuen Erklärung bezeichnete Öcalan diese Gruppe ausdrücklich als Teil einer Lösung.


Regierung sauer auf den Staatschef

Mit seiner Kritik indes stellte Erdoğan die eigene Regierung bloß, die erst vor Tagen die Vorstellung der Beobachtergruppe angekündigt hatte. Das ging selbst den Erdoğan-Gefolgsleuten im Kabinett zu weit: Regierungssprecher Bülent Arinç wies Erdoğans Äußerungen zurück. Das ist sehr ungewöhnlich, denn auch als Präsident ist Erdoğan De-facto-Führer der Regierungspartei AKP und oberster Chef des Kabinetts geblieben. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und seine Minister haben kaum Gestaltungsspielraum. Dagegen und gegen Erdoğans Pläne für ein reines Präsidialsystem, das Davutoğlus Job überflüssig machen würde, wachse der Widerstand in der Regierung, schrieb Kolumnist Kadri Gürsel in der Zeitung „Milliyet“.

Der Streit zwischen Erdoğan und Regierung nährt Zweifel an der Fortsetzung des Friedensprozesses. Wenn Öcalan die Beendigung des Konflikts an die zehn Punkte knüpfe, Erdoğan den Plan aber ablehne, stelle sich die Frage, wie es weitergehen soll, schrieb der Politologe Sedat Laciner auf Twitter.

Erdoğans Bremsmanöver zeigt die Scheu des türkischen Staats vor fundamentalen Veränderungen, um das Kurdenproblem zu lösen. Der Autor Mustafa Akyol schrieb einmal, die AKP folge in wichtigen Bereichen der Tradition eines autoritären Staatsverständnisses. Dazu gehörten die Überbetonung eines mächtigen Führers an der Spitze von Partei und Staat sowie eine äußerst weit gefasste Definition von Terrorismus, die auch gewaltfrei vorgetragene Gedanken einschließe. Diese Auffassungen kollidieren direkt mit der Art von Reformen, die Erdoğan zulassen müsste, um das Kurdenproblem zu lösen. Er aber teilt die alte Furcht der türkischen Nationalisten vor Minderheiten, die einen Zerfall des Staates auslösen könnten.


Alte Angst vor Staatszerfall?

Vielleicht kehrt Erdoğan nur wegen der Parlamentswahl den Nationalisten heraus, um später kompromissbereit zu sein. Doch wahrscheinlicher ist, dass er wirklich glaubt, substanzielle Zugeständnisse an die Kurden würden die Existenz der Türkei gefährden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2015)