Die Presse, 25.03.2015

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Türkei: Palastrevolte in Ankara

In der AKP gärt es: Präsident Erdoğan mäkelt am Friedensprozess mit den Kurden herum, Vizepremier Arinç lässt sich den Querschuss nicht gefallen und hat nun den Staatsanwalt am Hals.

Von unserer Korrespondentin SUSANNE GÜSTEN (Die Presse)

Istanbul. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die türkische Regierung streiten sich in aller Öffentlichkeit, und das weniger als 80 Tage vor der Parlamentswahl im Juni. Aktueller Anlass für den Zwist ist die Haltung Ankaras zum Friedensprozess mit den Kurden. Bei dem Streit entladen sich tiefer liegende Spannungen, die bisher unter der Decke gehalten wurden. Dabei geht es vor allem um Erdoğans absoluten Führungsanspruch, der bei der Regierung auf Widerstand stößt.

Der Präsident hatte, offenbar mit Blick auf rechtsgerichtete Wähler, das Verhalten der Regierung in den Verhandlungen mit den Kurden kritisiert und vor einer Aufwertung von Rebellenchef Abdullah Öcalan gesprochen. Regierungssprecher Bülent Arinç, ein alter Wegbegleiter Erdoğans und Mitbegründer der Regierungspartei AKP, widersprach dem Präsidenten in deutlichen Worten. Der Friedensprozess mit den Kurden sei nun einmal nicht Sache des Präsidenten. Niemand solle vergessen, „dass es in diesem Land eine Regierung gibt“, sagte Arinç.

Einige besonders Erdoğan-treue AKP-Politiker reagierten empört auf die Äußerungen von Arinç und warfen ihm Undankbarkeit vor. Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, forderte Arinçs Rücktritt und bezeichnete ihn als heimlichen Anhänger von Erdoğans Erzfeind, dem islamischen Prediger Fethullah Gülen. Arinç erwiderte, Gökçek sei korrupt und sitze selbst der Gülen-Bewegung „auf dem Schoß“.

Gökçek kündigte daraufhin an, er werde Arinç verklagen. Gleichzeitig nahm die Staatsanwaltschaft in Ankara Vorermittlungen gegen beide Politiker auf. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoğlu sagte, sowohl Arinç als auch Gökçek hätten sich falsch verhalten. Er drohte mit parteiinternen Disziplinarverfahren.

Der Streit zwischen Präsident und Regierung über die Einmischungen Erdoğans ist damit aber nicht ausgeräumt. Im Hintergrund stehen grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. So gilt Davutoğlu als Gegner des von Erdoğan angestrebten Präsidialsystems, das die Regierung zum bloßen Erfüllungsgehilfen des Staatschefs degradieren würde. Zudem besitzt Davutoğlu schon jetzt nur nominell die Richtlinienkompetenz als Chef der Regierung und als Vorsitzender der AKP. Die tatsächliche Macht über Regierung und Partei liegt weiter bei Erdoğan, auch wenn sich dieser als Präsident nach der Verfassung eigentlich aus der Tagespolitik heraushalten müsste. Zweimal bereits hat Erdoğan als Präsident die Sitzungen des Kabinetts geleitet.


Selbstdemontage der Partei

Nach Berichten will der Präsident sogar die AKP-Kandidaten für die Parlamentswahl am 7.Juni auswählen, eine Aufgabe, die offiziell Davutoğlu zukommt. Sollte Erdoğan darauf bestehen, wäre Davutoğlu als Parteichef und als Premier schwer beschädigt. Doch Erdoğan sei überzeugt, dass er viel mehr von Wahlkämpfen verstehe als Davutoğlu, schrieb Kolumnist Kadri Gürsel in der Zeitung „Milliyet“.

Selbst glühende AKP-Anhänger sprechen von einer Selbstdemontage der siegesgewohnten Partei. Die AKP verdanke ihre Erfolge nicht zuletzt ihrer Einigkeit, doch damit sei es nun vorbei, schrieb Abdülkadir Selvi, Kolumnist des regierungsnahen Blatts „Yeni Şafak“ und einer der bekanntesten AKP-Fans unter den türkischen Kommentatoren: „Der Zauber ist dahin.“ Das finden offenbar auch die Wähler. Meinungsforscher sehen die AKP im Abwärtstrend, auch wenn die Führungsposition der AKP als stärkste politische Kraft nicht gefährdet ist.

Hatte Erdoğan die Partei bei der Parlamentswahl von 2011 mit fast 50Prozent der Stimmen noch zum größten Triumph ihrer Geschichte geführt, sehen mehrere Institute die AKP derzeit bei rund 40Prozent. Im neuen Parlament nach dem 7.Juni könnte die AKP die absolute Mehrheit der Sitze verlieren, wenn sich die Abwärtsbewegung fortsetzt und gleichzeitig die Oppositionsparteien zulegen.

Die Zeitung „Taraf“ meldete, Erdoğan habe sich bei seiner Kritik an den Kurden-Verhandlungen von Umfragen leiten lassen, die erhebliche Zugewinne der Nationalistenpartei MHP voraussagten. Der Präsident fahre nun einen nationalistischeren Kurs, um diesen Trend zu stoppen. Einige Demoskopen vermuten aber, dass der Präsident der eigenen Partei damit eher schadet als nützt. Erdoğan sei selbst zum größten Problem der AKP geworden, sagte der Meinungsforscher Tarhan Erdem dem Nachrichtenportal T24.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2015)