Gießener Zeitung, 24.03.2015

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"Türkei als EU-Mitglied? Das Thema ist von gestern"

BUSECK - (inf). Seit Zeiten des Osmanischen Reichs im 14. Jahrhundert und dessen Eroberungsfeldzügen ist die Geschichte der Türkei eng mit der Europas verknüpft. Seitdem die EU im Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen hat, ist dies immer wieder ein "umstrittenes und kontroverses Thema der Politik". Deshalb stand die Türkei im Mittelpunkt des 25. Busecker Forums für Sicherheitspolitik im Kulturzentrum.

Referent war Heinrich Quaden, Oberst a.D. und ehemaliger Militärattaché in der Türkei, der unter dem Titel "Türkei zwischen Orient und Okzident - Partner oder Frontstaat?" die zum Teil äußerst komplexen und mitunter schwierigen Beziehungen der EU zu dem Staat unter die Lupe nahm. "Denn immer wieder scheinen sich zwei Aussagen unvereinbar gegenüber zu stehen", so Quaden. Zum einen sei die Türkei mit ihrer Anbindung an den Mittleren Osten "ein kleinasiatischer, nichteuropäischer Staat", der durch seine Unterschiede in Religion, Politik und Kultur "die Einheit Europas gefährden könnte". Zum anderen sei die Türkei für Europa eine "Entwicklungs-, religiöse und geopolitische Chance".

Noch zu Zeiten des Warschauer Paktes habe die Türkei eine absolut zentrale Rolle für die Nato gespielt. Diese Rolle habe sie aber mittlerweile verloren, betonte der Referent. Quaden ging auch auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ein, der die Türkei innerhalb kürzester Zeit "von einem Land auf Steinzeitniveau fast in die Moderne geprügelt hat". Es sei jedoch versäumt worden, das ganze Volk in jenen Reformprozess zu integrieren. Quaden sieht darin einen Grund für die Popularität des amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogangan. Denn der sei "ein Mann des Volkes, aus kleinsten Verhältnissen" entstammend. "Eigentlich hat der Staatspräsident keinerlei politische Befugnisse", erläuterte der Referent. Und dennoch sei es Erdogan, der nach Ansicht des Experten die Dinge in der Türkei regelt. Der Politiker bereite sich offenbar darauf vor, in dem Land eine Präsidialdemokratie einzuführen. Jedoch besitze Erdogan alleine mit seiner Partei AKP nicht die politische Mehrheit, um diesen Wandel durchzudrücken.

Quaden wies darauf hin, dass sich in der Türkei eine große EU-Verdrossenheit breitmache. 2000 seien noch 90 Prozent der Türken für einen Beitritt in die EU gewesen, mittlerweile seien es noch 49 Prozent. Ein Grund weniger für die EU, sich dringlich mit dem ungeliebten Thema "EU-Beitritt" und der Person des "Neuen Sultans" zu beschäftigen.

Mit den Kämpfen jenseits der Grenze in Syrien und dem Irak, habe die Türkei im Moment ganz andere Themen zu bewältigen, erläuterte der Referent. Diese verzwickte, politische Lage könnte auch der Grund sein, warum Erdogan als erster türkischer Staatschef seit langer Zeit bereit sei, mit den Kurden einen wie auch immer gearteten Dialog zu führen.

Der ehemalige Militärattaché sieht den Beitritt der Türkei jedoch als überholt an: "Die Türkei - ein 29. Mitglied der EU? Das Thema ist von gestern". Denn durch die Probleme vor der eigenen Haustür und mit einer konservativen Regierung an der Macht orientiere sich das Land immer weiter nach Osten, in Richtung Asien und den Ländern der Turkvölker - weg von der EU und der westlichen Anbindung. "Die Ausrichtung und politische Öffnung der Türkei nach Asien und in den Mittleren Osten ist meiner Meinung nach die wichtigste geostrategische Veränderung seit der Machtübernahme durch die Ajatollahs damals im Iran", betonte Quaden. Mit dem "arabischen Frühling" habe sich "die Stellung der Türkei verändert". Während das Land früher "als gemäßigter, säkularer Staat eine Vermittlerrolle zwischen den arabischen Staaten und der EU innehatte", so sei dies inzwischen obsolet. Aufgrund dieser Veränderungen sei es notwendig, die Türkei in Zukunft sehr genau politisch und strategisch im Auge zu behalten, erklärte Quaden.