Neue Zürcher Zeitung, 25.03.2015 http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/zerstoerte-doerfer-und-zerstrittene-milizionaere-1.18509285 Kampf um Tikrit Zerstörte Dörfer und zerstrittene Milizionäre Inga Rogg, Alam Ein komplett zerstörtes
Wohnhaus in Alam. Der Ort wurde bis vor kurzem noch von den Kämpfern des
IS gehalten. Ein komplett zerstörtes Wohnhaus in Alam. Der Ort wurde bis
vor kurzem noch von den Kämpfern des IS gehalten. (Bild: Thaier Al-Sudani
/ Reuters) Ausgelassen drehen junge Kämpfer in dunkelgrünen Tarnuniformen Pirouetten, rhythmisch stampfen sie auf den Boden und schwingen ihre Kalaschnikows in die Luft. «Wir alle sind Brüder», brüllt einer der Kämpfer. «Mohammed ist unser Prophet. Unser Schicksal ist das gleiche. Verflucht sei der Konfessionalismus!» Die Kämpfer der Badr-Organisation, eine der schlagkräftigsten schiitischen Milizen im Irak, feiern die Ankunft von Vertriebenen in Alam. Zehn Familien sind in den sunnitischen Ort zurückgekehrt, ihre Habseligkeiten haben sie auf Pick-ups verstaut. «Gott schütze euch!», ruft eine alte Frau den Kämpfern zu. «Sie sind mutig, sie haben uns gerettet.» Mit einem schrillen Trillern unterstreicht sie das Lob für die Kämpfer. Dazu schwingt sie eine irakische Flagge – die einzige, die in diesem Ort rund zwei Kilometer östlich von Tikrit zu sehen ist. Am zentralen Platz mit einem Brunnen hängen stattdessen eine schiitische Fahne und ein grosses Plakat der Badr-Organisation. Auf den Brunnenrand hat jemand religiöse, schiitische Graffiti gesprüht. Hilfe aus dem Südirak Im vergangenen Juni hatten die Extremisten des Islamischen Staats (IS) das Dorf überrannt. Wie die Alte flohen die meisten damals, andere leisteten Widerstand, bis ihnen – von der Regierung in Bagdad im Stich gelassen – die Munition ausging. Anfang März starteten schiitische Milizionäre und versprengte Reste der irakischen Armee eine Grossoffensive , um Tikrit und die umliegende Provinz Salaheddin zurückzuerobern. Vor zehn Tagen nahmen sie Alam ein. Verbrannte Autowracks und von Granaten- und Schusslöchern durchsiebte Läden zeugen von den Kämpfen. Doch die meisten Geschäfte an der Hauptstrasse sind offenbar Plünderern zum Opfer gefallen: Die Scheiben sind eingeschlagen, das Mobiliar wurde geraubt, Kassen aufgebrochen. Auf dem staubigen Asphalt vergammeln Orangen, Gemüse und Eier und verbreiten einen beissenden Gestank. Hin und wieder fährt ein Auto vorbei. Mit versteinerten Mienen starren die Fahrer und ihre Begleiter auf das Treiben an dem Platz. Drei Milizionäre posieren mit einer erbeuteten IS-Fahne für Fotos. Aus einem Autoradio dröhnt in voller Lautstärke ein patriotischer Song. Sekunden später übertönen Salven von Freudenschüssen den hellen Tenor des Sängers. Wie viele floh Hassan al-Juburi vor neun Monaten aus Alam. «Seit 2003 haben wir unter den Terroristen gelitten», sagt der Ingenieur. «Heute haben wir endlich unsere Ehre zurückgewonnen.» Für einmal scheint das Wort von der schiitisch-sunnitischen Brüderlichkeit mehr als eine hohle Phrase. In seiner Villa überschlägt sich Scheich Khalid al-Juburi vor lauter Lob für die schiitischen Kämpfer. «Sie haben niemandem ein Haar gekrümmt. Sie haben uns beschützt und uns mit Essen versorgt», sagt der 31-jährige Stammeschef. Aus dem schiitischen Südirak erhielten die Bewohner jetzt Lastwagenladungen mit Lebensmitteln. «Die Regierung hat das Krankenhaus wieder geöffnet, und wir haben 24 Stunden am Tag Strom.» Wollen die Milizionäre und Soldaten den IS hier im sunnitischen Kernland bezwingen, müssen sie Stammeschefs wie Scheich Khalid für sich gewinnen. Alam und der hiesige Jubur-Stamm sind freilich ein Sonderfall. Der Stamm hat sich nicht nur wegen des Widerstands gegen den IS einen Namen gemacht, sondern wegen der Rettung von schiitischen Rekruten. Unmittelbar nach der Einnahme von Tikrit am 11. Juni hatten IS-Leute Hunderte von unbewaffneten Rekruten verschleppt und ermordet, die auf der Militärbasis Camp Speicher nordwestlich von Tikrit stationiert waren. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass dem Kriegsverbrechen 600 bis 1150 Schiiten zum Opfer fielen. Angehörige des Jubur-Stammes versteckten damals wochenlang Überlebende, schmuggelten sie durch Feindesland oder gaben ihnen für die Heimreise in den Südirak sunnitische Papiere. Niedergebrannte Dörfer Knapp zehn Kilometer südlich von Alam ist von Brüderlichkeit keine Rede mehr. In Albu Ajil, einem kleinen Dorf des gleichnamigen Clans, regiert der blanke Hass. Die Schiiten werfen dem Clan Verrat und Komplizenschaft im Speicher-Massaker vor. «Wir werden sie kriegen», sagt ein Milizionär. In das Dorf hinein dürfen wir nicht. Doch vom Strassenrand kann man eine Reihe von Häusern sehen, die offensichtlich mutwillig in Brand gesteckt wurden. Mitglieder von zwei anderen Milizen haben Videos vom Zeitpunkt der Einnahme des Dorfs veröffentlicht. In einem sieht man brennende Häuser, in einem anderen marschiert ein Milizionär durch ein zerstörtes Quartier am Tigris, wo die IS-Fanatiker viele der Speicher-Opfer umgebracht haben sollen. «Es war ein harter Kampf, aber wir haben das Dorf mit Mörsergranaten komplett zerstört», sagt der Milizionär. In dem Dorf gebe es keine Zivilisten und auch keine «Daesh»-Ratten mehr, wie er die IS-Kämpfer nennt. Daesh ist das verächtlich gebrauchte, arabische Akronym für «Islamischer Staat». Auf einem Hügel an der Strasse Richtung Tikrit zeigen uns die Badr-Kämpfer ein Massengrab, in dem 13 Leichen entdeckt wurden. Ein Geistlicher in Militäruniform spricht ein Totengebet. Fünf Massengräber seien bisher entdeckt worden, sagt Moin al-Kadhimi, Abgeordneter im Bagdader Provinzparlament, der seinen Anzug wie viele schiitische Politiker gegen eine Uniform getauscht hat. Dafür müssten die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Von Selbstjustiz will er nichts wissen. Doch die hat es gegeben. Menschenrechtsorganisationen werfen den Milizen schwere Verstösse gegen das Kriegsvölkerrecht vor. In der Umgebung von Amerli, einer Kreisstadt im Osten der Provinz Salaheddin, hätten Milizionäre im letzten Jahr Dutzende von Dörfern niedergebrannt, heisst es im jüngsten Bericht von Human Rights Watch (HRW). In 47 Dörfern seien Moscheen, öffentliche Einrichtungen, Häuser und Läden geplündert und zerstört worden. In der angrenzenden Provinz Diyala hinterliessen die schiitischen Kämpfer ebenfalls verbrannte Erde. Zahllose Dörfer seien teilweise oder ganz zerstört, so HRW. In anderen Gegenden haben Milizionäre unbewaffnete Gefangene brutal ermordet. An den Verbrechen sollen auch Badr-Einheiten beteiligt gewesen sein. Sunnitische Politiker beschuldigen die Milizionäre, im Verlauf der Offensive auf Tikrit ebenfalls Verbrechen begangenen zu haben. Die Badr-Kämpfer bestreiten das heftig. «Damit wollen sie nur unser Ansehen in den Schmutz ziehen», sagt einer. Kaum haben wir Bagdad hinter uns gelassen, gehört uns die vierspurige Schnellstrasse in Richtung Tikrit fast ganz allein. Nur ab und zu begegnen uns ein paar Militärfahrzeuge. Auf einem Feld schuften fünf Frauen, in einem Wasserloch weiden sich Wasserbüffel. Überall wehen schiitische Fahnen, selbst an den Checkpoints hängen die Embleme von Milizen, von denen es inzwischen so viele gibt, dass selbst Iraker den Überblick verloren haben. Spuren der Zerstörung Vor uns taucht das berühmte Spiralminarett von Samarra auf. Ein Anschlag auf den Askeri-Schrein, eines der bedeutendsten schiitischen Heiligtümer, war vor neun Jahren der Auslöser für den schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg im Irak. Im letzten Sommer drohte der IS von hier aus sogar Bagdad zu überrennen. Heute wirkt Samarra wie eine Garnisonsstadt. Je weiter wir nach Norden kommen, umso gespenstischer wirkt die Gegend. Nur in einer Wohnsiedlung scheinen noch ein paar Familien zu leben. Sonst ist in den Dörfern und Weilern weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Vereinzelt tauchen Gebäude auf, die entweder durch Bombenanschläge oder Luftangriffe zerstört wurden. Im Übrigen säumen die Strassen vor allem demolierte Geschäfte. Kurz vor Dawr, der Heimatstadt des untergetauchten Vize von Saddam Hussein, endet unsere Fahrt jäh. Der Ort südlich von Tikrit wird von der Kataib-Hizbullah kontrolliert. Theoretisch unterstehen alle Milizen dem Badr-Chef Hadi al-Ameri. Doch hier endet seine Macht. «Hier kommen keine Amerikaner durch», sagt der Checkpoint-Kommandant. Badr-Kämpfer springen aus ihren Wagen, stürmen auf den Checkpoint zu, beide Seiten zücken ihre Waffen. Die Hizbullah-Kämpfer bleiben stur. Nach ein paar Minuten heisst es umkehren. Es folgen hitzige Telefonate und Funksprüche, bis irgendwer den Befehl gibt, uns durchzulassen. Aber: «Keine Fotos!» Ein finster dreinblickender Mann marschiert die Kolonne ab und bläut jedem Einzelnen den Befehl ein. «Auch nicht mit dem Handy!», raunzt er. Wie die anderen Orte ist auch Dawr verweist, sind auch hier sämtliche Geschäfte verwüstet. Auf einer sunnitischen Moschee weht die Hizbullah-Fahne. An jeder Strassenecke stehen gepanzerte Fahrzeuge der paramilitärischen Bundespolizei. Darüber hinaus sieht man aber auch die Spuren, die der IS hinterlassen hat. Gross wie ein Betttuch haben die Extremisten die Fahne ihres Kalifatsstaats auf eine Mauer gesprüht. Hauswände sind mit antischiitischen Parolen beschmiert. Vorerst gestoppte Offensive Wenn sich die Milizen schon jetzt in die Haare geraten, was passiert erst, wenn der Krieg gegen den IS gewonnen ist? Bis dahin ist freilich noch ein langer Weg. Die Offensive auf Tikrit wurde erst einmal eingestellt. Um die noch verbliebene Zivilbevölkerung zu schützen, heisst es offiziell. Diplomaten bezweifeln diese Darstellung. Die bisherigen Erfolge der Milizen beschränkten sich auf kleinere Orte, sagt einer. Für eine komplexe Grossoffensive hätten sie nicht die Kapazität. Daran scheint auch die iranische Unterstützung wenig zu ändern. Um die jetzt eroberten
Gebiete dauerhaft zu halten, müssten alle Einheimischen zurückkehren.
Aber selbst in Alam misstrauen viele Schiiten den Sunniten. Der Aufbau
einer lokalen Truppe hat erst begonnen. Am Checkpoint wirft ein Kämpfer
namens Mohammed, der eben noch die irakische Einheit beschworen hat, den
Heimkehrern einen abschätzigen Blick zu. «Früher waren sie für Daesh,
jetzt preisen sie uns», sagt er. «Das sind doch alles Gauner.»
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