Berliner Zeitung, 27.03.2015

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Sicherheitsgesetze

Die Türkei auf dem Weg zum Polizeistaat

Von Frank Nordhausen

Istanbul – Schon beim Verdacht, dass ein Demonstrant einen Stein in der Tasche trägt, dürfen Polizisten in der Türkei ab sofort Schusswaffen einsetzen. Die Verabschiedung neuer Sicherheitsgesetze löst nicht nur in der türkischen Opposition Angst aus.

Selten war eine parlamentarische Initiative in der Türkei so umstritten wie die neuen Sicherheitsgesetze. Stühle flogen im Parlament, blutende Abgeordnete mussten ins Krankenhaus gebracht werden, und die Opposition zögerte die Verabschiedung einzelner Artikel durch sogenanntes Filibustern einen Monat lang hinaus. Doch am Freitag war es soweit: Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP verabschiedete das Gesetzespaket mit ihrer parlamentarischen Mehrheit, nachdem sie rund die Hälfte der ursprünglich 132 Artikel gestrichen hatte. Doch die entscheidenden Paragraphen sind geblieben. Die größte Oppositionspartei CHP hat umgehend angekündigt, vor dem Verfassungsgericht dagegen zu klagen. Sie spricht von der „Einführung des Polizeistaates in der Türkei“.

Durchsuchungen ohne richterliche Genehmigung

Die neuen Gesetze erlauben der Polizei den Einsatz von Schusswaffen, wenn Demonstranten Molotow-Cocktails oder andere Waffen einsetzen, aber auch beim bloßen Verdacht, dass jemand einen Stein in der Tasche trägt. Selbst die Teilnahme an genehmigten Kundgebungen kann gefährlich sein. Die Polizei kann verdächtige Personen ohne richterliche Genehmigung durchsuchen und bis zu 48 Stunden einsperren, was bislang nicht möglich war. Staatsanwälte und sogar staatlich bestellte Gouverneure können eigenmächtig Festnahmen anordnen. Ein Vermummungsverbot sieht Strafen von bis zu vier Jahren Haft für Verstöße vor. Die Regierung begründete die Initiative mit der Notwendigkeit, gewalttätige Ausschreitungen wie im Oktober zu verhindern, als bei Unruhen in den südostanatolischen Kurdengebieten mehr als 40 Menschen getötet wurden.
Demonstranten protestieren gegen die neuen Sicherheitsgesetze. Foto: AFP

Wegen ihrer drakonischen Härte, die der ohnehin für ihre Gewalt berüchtigten Bereitschaftspolizei weitgehende Vollmachten zuspricht, führten die Gesetzesvorschläge im Parlament dazu, dass die drei zerstrittenen Oppositionsparteien in deren Ablehnung seltene Einigkeit zeigten. Sie argumentierten, dass es der Regierung nicht um mehr Sicherheit gehe, sondern darum, öffentliche Proteste gegen ihre Politik vor den Parlamentswahlen am 7. Juni zu unterbinden. Die Maßnahmen würden Polizeigewalt legalisieren, die Gewaltenteilung, Grundrechte und Freiheiten weiter einschränken. „Mit diesem Gesetz fällt die Türkei zurück in die dunkelsten Zeiten nach dem Militärputsch 1980“, sagte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu, „Die zusätzliche Macht für die Polizei, Geheimdienste und Exekutive wird die Bürgerrechte praktisch abschaffen.“

Gesetze könnten Friedensprozess beenden

Dramatisch dürften sich die Reformen vor allem auf den stockenden kurdischen Friedensprozess auswirken. Kurdische Politiker und Vertreter der PKK-Guerilla hatten die Rücknahme der Sicherheitsgesetze zur Vorbedingung weiterer Verhandlungen erklärt. Politische Kommentatoren vermuten, dass die AKP-Regierung mit den Gesetzen den Abbruch der Gespräche durch die Kurden provozieren wolle, weil sie bei deren Fortsetzung Stimmenverluste an die ultranationalistische MHP befürchte. Das Gesetzespaket könnte den Friedensprozess beenden und eine verhängnisvolle Spirale der Gewalt in den kurdisch geprägten Regionen in Gang setzen. „Wir betonen immer, dass wir keinen Krieg haben wollen, aber die türkische Regierung setzt auf die Eskalation der Gewalt“, erklärte Mülkiye Birtane, Parlamentsabgeordnete der prokurdischen HDP, dieser Zeitung. „Wenn die Unterdrückung nicht aufhört, wird die Bevölkerung aufstehen und dagegen ankämpfen.“