Neue Zürcher Zeitung, 27.03.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712

Mehr Befugnisse für die Polizei

Ankara zieht die Schraube an

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Die türkische Polizei darf Protestierende künftig bis zu 48 Stunden festhalten: Ein Demonstrant wird in Ankara abgeführt. (11. März 2015) Die türkische Polizei darf Protestierende künftig bis zu 48 Stunden festhalten: Ein Demonstrant wird in Ankara abgeführt. (11. März 2015) (Bild: Stringer / Reuters)
Das türkische Parlament hat ein Sicherheitsgesetz gebilligt, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Der Staat nimmt zunehmend autoritäre Züge an.

Am frühen Freitagmorgen hat das türkische Parlament nach einer nächtlichen Schlussdebatte ein kontroverses Sicherheitsgesetz mit 199 gegen 32 Stimmen verabschiedet. Künftig darf die Polizei Demonstranten ohne Beizug eines Haftrichters bis zu 48 Stunden festhalten. Auch sind die Beamten befugt, von ihrer Schusswaffe Gebrauch zu machen, wenn Protestierende Molotowcocktails, Feuerwerkskörper «oder ähnliche Waffen» mit sich führen. Zudem werden die von der Zentralregierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen.

Kosmetische Anpassungen

Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP will das Sicherheitsgesetz als Instrument benutzen, um terroristische Aktivitäten und schwere Unruhen wie im Oktober 2014 zu unterbinden. Damals wurden bei Zusammenstössen zwischen Kurden und Islamisten Dutzende von Personen getötet. Zuvor hatten Kurden im ganzen Land gegen die passive Haltung der türkischen Regierung im Syrien-Konflikt demonstriert.

Nach Ansicht der für einmal geeinten Opposition verwandelt das umstrittene Gesetz die Türkei in einen Polizeistaat. Die seit Februar geführte Parlamentsdebatte artete mehrfach in Faustgefechte aus und forderte zahlreiche Verletzte. Die Regierung war nach Darstellung der Opposition nur zu kosmetischen Anpassungen des Gesetzes bereit. Wer die Vorlage ablehne, polterte Präsident Recep Tayyip Erdogan, lehne den Kampf gegen den Terrorismus ab.

Künftig droht Vermummten, die an «Propaganda-Kundgebungen für eine terroristische Vereinigung» teilnehmen, Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren. Erdogan erklärte, wer kein Terrorist sei, habe keinen Grund, sein Gesicht zu verstecken. Allerdings halten oft auch friedfertige Demonstranten nasse Tücher vor ihr Gesicht, um sich vor dem bisweilen exzessiven Tränengaseinsatz der Polizei zu schützen.

Wer Insignien «illegaler Organisationen» verwendet oder verbotene Slogans skandiert, kann ebenfalls für mehrere Jahre hinter Gitter gesteckt werden. Solche Passagen richten sich offenkundig gegen die Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die als Terrororganisation eingestuft wird. Trotz dem 2013 ausgerufenen Waffenstillstand lieferten sich PKK-Kämpfer und das türkische Militär in dieser Woche erneut Feuergefechte. Die Annäherung zwischen der PKK-Führung und Ankara wird durch das Sicherheitsgesetz zusätzlich erschwert.

Repressives Klima

Während die Regierung behauptet, das Sicherheitspaket genüge europäischen Standards, monieren Menschenrechtsorganisationen eine Beschneidung der Grundrechte. Politische Gegner würden vor den Parlamentswahlen am 7. Juni eingeschüchtert, zumal auf der Grundlage des Gesetzes Präventivhaft angeordnet werden könne. Die oppositionelle CHP will das Regelwerk vor dem Verfassungsgericht anfechten.

Ebenfalls am Freitag schuf die von der AKP kontrollierte Legislative rechtliche Voraussetzungen für die Sperrung von Websites, die als Gefährdung für die öffentliche Ordnung betrachtet werden. Präsident Erdogan hat bis anhin nicht erkennen lassen, dass ihm das zunehmend repressive Klima Sorgen bereitete. Im Gegenteil: Er unterstützt eine schärfere Kontrolle des Internets und verteidigt die Verhaftung von Medienschaffenden, die dem Dunstkreis des islamischen Predigers Fethullah Gülen zugeordnet werden.

Seit Erdogans Wechsel vom Amt des Ministerpräsidenten ins Staatspräsidium im August 2014 sind laut Presseberichten über 70 Personen wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts angeklagt worden.