junge Welt, 28.03.2015 http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 Erdoğans Polizeistaat Schießen auf Verdacht: Demonstrationsrecht verschärft, Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss möglich. Türkisches Parlament beschließt dauerhaften Notstand Von Claudia Wangerin Die türkische Polizei darf in Zukunft schneller in Menschenmengen schießen und benötigt für Durchsuchungen keinen richterlichen Beschluss mehr. Gegen den Widerstand der Opposition hat das Parlament in Ankara am Freitag ein entsprechendes »Sicherheitspaket« verabschiedet. Demnach sollen die Einsatzkräfte auch auf mutmaßlich gewalttätige Demonstranten schießen dürfen, ohne selbst angegriffen worden zu sein. Es genügt »der Verdacht auf Anwendung von Gewalt gegen die Polizei oder andere«, festzustellen vom diensthabenden Polizeichef. Schon das Mitführen von Steinschleudern oder Feuerwerkskörpern bei Demonstrationen soll mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden, die Polizei muss aber bei Schusswaffengebrauch nicht einmal nachweisen, dass die Demonstranten wirklich Waffen dieser oder anderer Art getragen haben. Zudem gilt bei politischen Versammlungen unter freiem Himmel in Zukunft ein Vermummungsverbot, allerdings mit erheblich höherer Strafandrohung als in Deutschland. Ob es in der Türkei auch bei den bisher nicht seltenen Demonstrationen islamistischer Gruppen mit Hunderten vollverschleierter Frauen durchgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Im Ernstfall sollen bei Verstößen jedenfalls bis zu fünf Jahre Haft möglich sein, meldeten die Nachrichtenagenturen Anadolu und dpa. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP rechtfertigt das Gesetzespaket mit den Unruhen im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, bei denen im Oktober mindestens 40 Menschen gestorben waren. »Seit 2007 sind bisher 183 Personen durch Waffennutzung von der türkischen Polizei getötet worden«, so Murat Cakir, der für linke und gewerkschaftsnahe türkischsprachige Zeitungen schreibt und in Deutschland für die Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig ist, am Freitag im Gespräch mit junge Welt. Er sieht in dem Gesetzespaket »sowohl eine Legalisierung dieser Praxis als auch den Versuch, einen dauerhaften Notstand zu etablieren«. Um das auch personell zu bewältigen, wird das Höchstalter für Polizeirekruten von 28 auf 30 Jahre erhöht. Auch die Militärpolizei Jandarma soll mit dem »İç Güvenlik Paketi« (»Inneres Sicherheitspaket«) gestärkt werden. Hinzu kommen erweiterte Polizeibefugnisse bei Durchsuchungen und Festnahmen: Zumindest in der Theorie war bisher für die Durchsuchung von Personen, Wohnungen oder Kraftfahrzeugen ein richterlicher Beschluss notwendig. Mit der Gesetzesänderung wird dies aufgehoben. Polizisten, die als »Präventivkräfte« bezeichnet werden, können aus »angemessenen Gründen«, die sie »aufgrund ihrer Erfahrungen« feststellen, jederzeit Personen oder Autos durchsuchen und Personen als »Schutzmaßnahme« ohne richterlichen Beschluss festsetzen. Die Benachrichtigung des Staatsanwalts ist erst nach 24 Stunden nötig. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der die Änderungen unterzeichnen muss, hatte für das Paket geworben. Oppositionspolitiker und Initiativen wie die »Freiheitlich demokratischen Anwälte« hatten im Parlament und auf Demonstrationen vor einem Polizeistaat gewarnt. Während der Parlamentsdebatten waren AKP-Vertreter handgreiflich geworden und hatten fünf Abgeordnete der kemalistischen, sozialistischen und pro-kurdischen Oppositionsparteien zum Teil so verletzt, dass diese im Krankenhaus behandelt werden mussten. Vor und nach der Verabschiedung kündigten der Gewerkschaftsdachverband KESK und die Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen Widerstand gegen die »Unterdrückungsgesetze« an. Von der »sunnitisch-konservativen Mehrheitsgesellschaft«, so Murat Cakir, sei in nächster Zeit aber nicht viel Protest zu erwarten.
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