Wirtschaftsblatt, 27.03.2015 http://wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/europa/4695132/Erdogan-ein-Sicherheitsrisiko-fur-die-Turkei von Andrea Sieder/APA Erdogan – ein Sicherheitsrisiko für die Türkei Türkeis Präsident Erdogan Staatspräsident Erdogan agiert immer radikaler und selbstherrlicher, wie seine jüngsten Reden, sein Vorgehen gegen Gegner, gegen Medien zeigen. Seine antiwestliche Rhetorik und seine Paranoia nehmen bedenkliche Ausmaße an. Selbst die Kurden bringt er mehr und mehr gegen sich auf. Seit den Wahlen im Jahr 2011 hat sich Erdogans Rhetorik und sein Auftreten massiv radikalisiert. Der ehemals als moderater islamischer Führer geltende Politiker reüssiert mittlerweile als islamistischer Hardliner und Spalter der Türkei. Intern regt sich Widerstand in seiner Partei, der AKP. Karikaturisten, Journalisten, Schüler, einfache Bürger: Wer sich mit dem Staatsoberhaupt anlegt, dem drohen empfindliche Strafen. Jüngstes Beispiel ist ein 28-jähriger Türke, der während eines Moscheebesuches Erdogans in Istanbul auf dessen schwarze Dienstlimousine spuckte. Ein Istanbuler Gericht verdonnerte ihn zu einer Geldstrafe von 7.600 Lira (2.668,07 Euro). In der Anklageschrift seien zwei Jahre wegen Beamtenbeleidigung gefordert worden, berichteten türkischen Medien am Donnerstag. Nach Angaben der Istanbuler Anwaltskammer wurden, seit Erdogan im vergangenen August zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, mehr als 80 Türken wegen Beleidigung des Präsidenten angeklagt. Mittlerweile scheint selbst der Friedensprozess mit den Kurden in der Türkei gefährdet, da die Verhandlungspartner auf der kurdischen Seite Erdogan nicht den nötigen Respekt erweisen. Wie Yalcin Akdogan, stellvertretender Ministerpräsident jüngst klarstellte, "sind die Worte unseres Staatspräsidenten in dieser Sache für uns Befehl". Für Akdogan ist Erdogan der "Architekt des Friedensprozesses". "Herr Erdogan ist nicht irgendjemand, so Akdogan. "Der Staatspräsident ist sowohl Gründer und Parteioberhaupt als auch der Führer der politischen Bewegung." Zudem sei die AKP "eine große Familie und eine Bewegung der Tugend", ließ Akdogan wissen. "Individuelle Polemiken und Fehler" könnten der Parteistruktur keinen Schaden zufügen. Aber er rief die eigenen Reihen zur Disziplin auf. Erdogan hat mit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im August des Vorjahres den Vorsitz der Partei AKP zurücklegen müssen, da ihn sein neues Amt zur parteilichen Neutralität verpflichtet. Nach der aktuellen Verfassung ist er nicht einmal mehr AKP-Mitglied. Ungeachtet dessen hat sich seine Rhetorik mit dem Amtswechsel nicht gemäßigt. "Was für ein Kurdenproblem? Es gibt kein Kurdenproblem mehr", hatte Erdogan wenige Tage vor den jahrelang verbotenen kurdischen Neujahrsfeiern Newroz erklärt und sich damit nicht nur den Ärger der rechtsnationalen und kemalistischen Opposition zugezogen. Selbst die radikalislamistische Partei "Hüda-Par" hat auf Erdogans Negierung des "Kurdenproblems" scharf reagiert. Ihr Führer Zekeriya Yapıcıoglu ließ darauf verlauten, "es gibt in diesem Land seit 200 Jahren ein Kurdenproblem, das dringend gelöst werden muss". Dabei ist Hüda-Par als Nachfolgeorganisation der türkischen Hisbollah selbst Teil des Problems um den jahrelange tobenden Bürgerkrieg mit offiziell 40.000 Toten. Die sich aus Kurden rekrutierende paramilitärische Organisation der Hisbollah wird verdächtigt, in den 90er-Jahren im Dienste des "Tiefen Staates" gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK hunderte, wenn nicht tausende politische Morde begangen zu haben. In seiner überraschenden Stellungnahme vom Dienstag gegenüber der lokalen Nachrichtenagentur "Ilke Haber" betonte Zekeriya, das Problem der Türkei sei nicht nur die PKK. Es seien die "Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten" gewesen, die in Folge zur Gründung der PKK geführt hätten. Selahattin Demirtas, Co-Chef der Kurdenpartei HDP, hat die Äußerungen Erdogans in einer ersten Reaktion als "Vorwahlattraktion" abgetan. Aber der Zeitpunkt war, nur wenige Tage vor Verlesung der Newroz-Botschaft des inhaftierten Kurdenführers Abdullah Öcalan, strategisch gewählt. Es wurde erwartet, dass Öcalan die PKK zur Niederlegung der Waffen aufrufen würde. Was auch passierte. Aber einen Zeitpunkt für den Ende des bewaffneten Kampfes fehlte in Öcalans Botschaft. Die PKK und ihre politische Vorfeldorganisation KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) stellte Bedingungen, unter wollte anderem von der türkischen Regierung "konkrete Schritte" zur Friedenslösung sehen. Aber Erdogan hat Öcalans Bedingung für Friedensverhandlungen, eine unabhängige Beobachtergruppe, abgeschmettert. Ein Vorschlag, der laut Regierungssprecher Bülent Arinc von der AKP-Regierung gutgeheißen und abgesegnet wurde. Das tiefe Misstrauen gegen den Zick-Zack-Kurs der AKP-Führungsriege und die Unberechenbarkeit des Staatspräsidenten hat zu einem neuerlichen Eklat geführt. Wie Demirtas am Donnerstag gegenüber Al Jazeera Türkei erklärte, habe die PKK ihren Entschluss, die Waffen niederzulegen, aufgrund der Aussagen Erdogans wieder zurückgezogen. Erdogans islamistische Agenda spaltet die türkische Bevölkerung nicht mehr entlang ethnischer Fronten. In seiner Diktion sind Kurden und Türken Brüder. Für ihn gibt es primär ein religiös definiertes Problem: Die "strenggläubigen sunnitischen kurdischen Brüder" gegen die "säkulären Atheisten der PKK und HDP". Spätestens seit der Proteste gegen die Terrormiliz Islamischer Staat IS im Zuge der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobane im Oktober 2014 in Südostanatolien hat sich das atheistische Feindbild auf die Kurdenpartei ausgedehnt. Erdogans religiös verbrämte Sicht der Welt wird immer stärker auch außerhalb der Türkei zum Problem. Mit seiner paranoiden Rhetorik hat er nicht nur zahlreiche muslimische Nachbarn verprellt, sondern auch den Westen. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu laviert zwischen Schadensbegrenzung für die Türkei und eigenem Gesichtsverlust. Die kürzliche Wiedereröffnung einer Synagoge im westlichen Edirne kann nicht hinwegtäuschen, dass das türkische Staatsoberhaupt seit dem überwältigenden AKP-Wahlsieg 2011 auf Eskalation setzt. Die linke Zeitung "Birgün" nennt Erdogans jüngste Äußerungen, westliche Kräfte wollten die Türkei in ein "weiteres Andalusien" verwandeln, schlichtweg "Aufruf zum Jihad".
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