welt.de, 31.03.2015

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Terror, Blackout und Massenfreispruch an einem Tag

Es war ein extremer Dienstag in der Türkei: Ein Stromausfall legt das Land lahm, ein Staatsanwalt stirbt nach einer Geiselnahme durch Linksextremisten, und 236 Erdogan-Gegner werden freigesprochen.

Von Boris Kálnoky , Pristina

Für die meisten Türken fing der Dienstag schlecht an. Um 10.36 Ortszeit standen U-Bahnen still, Aufzüge in Wohnhäusern blieben stecken, dazu fielen elf von 18 Flugkontrollzentren aus. Von Istanbul bis Adana im fernen Südosten des Landes sprangen die Generatoren an, außer offenbar dort, wo Notstromaggregate wirklich nötig wären – etwa bei besagten Fahrstühlen, in der Metro oder eben bei der Flugkontrolle.

Auf Twitter entwickelte sich der ironische Hashtag #Buradaelektrikyok ("Hier gibt's keinen Strom") zum weltweiten Topthema. In den von Notstrom beleuchteten Läden einer Istanbuler Einkaufspassage grüßten Händler ihre Kunden zu allgemeinem Gelächter: "Willkommen ... in Libyen!"

Bald wurde klar, dass der Blackout 49 von 81 Provinzen betraf. Kein Strom – auch nicht in Istanbul und Ankara, auch nach einer Stunde noch nicht, auch nicht nach zwei Stunden. Die Regierung ließ wissen, sie wisse nicht, woran es liege, und dass auch ein Cyber-Angriff denkbar sei. Im Internet kursierten Ironie und wildeste Gerüchte. Die lange Hand des Iran?

Ikone der Protestbewegung

Dann kam die nächste Horrornachricht: Mindestens zwei mutmaßliche Terroristen der linken Gruppe Revolutionäre Befreiungspartei-Front (DHKP-C) hatten offenbar die Strompanne genutzt, um bewaffnet in den riesigen Istanbuler Justizpalast Caglayan einzudringen. Scheinbar hatten auch die Sicherheitseinrichtungen keinen Notstrom gehabt. Im sechsten Stock des Gebäudes brachen die Militanten in das Büro von Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz ein. Die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete "zwei Pistolenschüsse".

Kiraz ist der Staatsanwalt im Fall des gewaltsamen Todes eines 15-jährigen Jungen namens Berkin Elvan, der während der Gezipark-Proteste gegen die Regierung im Sommer 2013 von einem Tränengaskanister am Kopf getroffen worden und nach langem Koma im März 2014 gestorben war. Der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte ihn einen "Terroristen" genannt. Die Familie hingegen gab an, ihr Sohn habe nicht demonstriert, sondern sei nur Brot holen gegangen. Im Internet kursieren Fotos, die ihn vermummt zeigen sollen. So oder so – er war ein Kind.

Die von Kiraz geleiteten Ermittlungen kamen jedenfalls nicht vom Fleck, 18 befragte Polizisten gaben an, sich nicht zu erinnern. Derweil wurde Berkin Elvan zu einer Ikone der Protestbewegung. Bei zahlreichen Demonstrationen zu seinem Angedenken sollen insgesamt bis zu zwei Millionen Menschen auf die Straße gegangen sein, dabei gab es erneut zwei Tote – darunter ein Polizist, dessen Herz stehen blieb, weil er zu viel vom eigenen Tränengas abbekam.

Und nun waren da zwei junge Männer in selbst gebastelter Revolutionärstracht und hielten Kiraz eine Pistole an den Kopf. Sie stellten Forderungen. Ein linksextremer Internet-Videokanal übertrug das Ganze, bevor er gehackt wurde und vom Netz verschwand. Die Militanten forderten ein "öffentliches Geständnis" der Polizisten, denen Berkin Elvans Tod zur Last gelegt wird, sowie einen Prozess gegen die "Täter" vor einem "Volkstribunal".

Da es ein solches nicht gibt, war das unerfüllbar – und die Angreifer drohten mit der Hinrichtung ihrer Geisel, falls ihre Forderungen nicht binnen drei Stunden erfüllt würden. Bald kam ein von ihnen selbst ausgewählter Unterhändler zum Ort des Geschehens. Derweil verfügte die Regierung einen Medien-Blackout zu den Vorgängen. Der andere Blackout, also der Stromausfall, war da noch immer nicht behoben.

Massenfreispruch von Erdogan-Gegnern

Doch der Tag war noch lange nicht zu Ende: Nach dem Stromausfall und der Geiselnahme kam der nächste Einschlag. Im sogenannten Balyoz-Prozess, in dem es um angebliche Putschpläne gegen Erdogan ging, wurden alle 236 Angeklagten wegen "fabrizierter Beweise" freigesprochen. Auf gut Deutsch: Das Gericht befand, die Staatsanwaltschaft oder Polizei oder wer auch immer habe belastende Indizien gegen die angeblichen Putschisten gefälscht.

Der Prozess war die Art türkischer Justiz, die einen EU-Beitritt bis auf Weiteres undenkbar macht: Massenhaft waren da Militärs und säkulare Journalisten, Akademiker und Oppositionelle zuerst jahrelang festgehalten und dann im Jahr 2012 abgeurteilt worden, und wenn Juristen Kritik an dem Verfahren äußerten, wurden sie selbst wegen "Beeinflussung der Justiz" verklagt.

All das war nach Meinung vieler Beobachter ein politischer Schachzug, um die Opposition einzuschüchtern. Experten wie Gareth Jenkins – der als einer der Ersten schon vor Jahren aussprach, dass das Gericht mit fingierten Beweisen arbeite – meinten als treibende Kraft des Verfahrens Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen im Justizapparat zu erkennen.

Erdogan hatte den Prozess zunächst unterstützt und gesagt, man müsse die Ergebnisse der "unabhängigen Justiz" akzeptieren. Aber dann überwarf er sich im Dezember 2013 mit Gülen, und plötzlich war alles anders. Bald signalisierte die Regierung, dass das Balyoz-Verfahren neu aufgerollt werden könne. Und nun wurden an diesem Dienstag alle Angeklagten freigesprochen. Der massenhafte Freispruch wirkte freilich nicht weniger politisch gelenkt als zuvor die massenhaften Schuldsprüche.

Staatsanwalt erliegt seinen schweren Verletzungen

Was den Stromausfall ausgelöst hatte, wusste man immer noch nicht. Und die Geiselnahme, die am frühen Abend ebenfalls noch andauerte – darüber werden die Türken noch lange diskutieren. Fakt ist, dass es im linksextremen Milieu seit Langem starke Anteilnahme an Berkin Elvans Tod gibt, ob er nun selbst militant war oder nicht. Für eine "echte" linksextremistische Aktion sprach eine weitere Entwicklung am Abend: Da drohte eine weitere linke Terrorgruppe Repressalien an, falls den Geiselnehmern etwas passiere.

Die Polizei in Istanbul hat die Geiselnahme eines Staatsanwalts durch Linksextremisten nach neun Stunden dann dennoch gewaltsam beendet. Die beiden Geiselnehmer seien bei dem Zugriff im zentralen Justizgebäude der türkischen Metropole am Dienstagabend getötet worden, sagte Istanbuls Polizeichef Selami Altinok. Der Staatsanwalt erlag im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen, sagten die behandelnden Ärzte im türkischen Fernsehen.

Klar ist nach Ansicht vieler Beobachter, was die Balyoz-Freisprüche bedeuten. Es ist nicht nur eine Folge des Bruchs zwischen Regierung und Gülen-Bewegung, sondern auch eine Hinwendung der Regierung zu den säkularen, national gesinnten Kräften.

Eine Meinungsumfrage des Gezici-Instituts ergab vor Kurzem, dass die Regierungspartei AKP zwar noch dominiert, aber allmählich schwächelt, die säkulare CHP und vor allem die nationalistische MHP hingegen legen zu. Die Wirtschaft stagniert. Im Juni wird gewählt. Erdogan und die AKP wollen eine Zweidrittelmehrheit, um eine neue Verfassung durchzudrücken. Sie brauchen die Wähler der Nationalisten.