Frankfurter Rundschau, 01.04.2015

Chaotische Zustände in Istanbul

Von Frank Nordhausen

Die türkische Polizei nimmt mehr als 60 Menschen fest, weiter finden Razzien in Istanbul nach dem blutigen Ende der Geiselnahme statt. Zwischenzeitlich hatten bewaffnete Männer auch das Büro der AK Partei besetzt.

Nur einen Tag nach der tödlichen Geiselnahme eines Staatsanwalts durch Linksextremisten gab es in Istanbul erneut einen bewaffneten Überfall mit politischem Hintergrund. Ein Bewaffneter stürmte am Mittwochvormittag ein Büro der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Die Polizei zog daraufhin Einsatzkräfte zusammen, stürmte das Gebäude und nahm den Angreifer in dem Parteibüro fest, wie türkische Nachrichtenagenturen meldeten. Niemand sei zu Schaden gekommen. Die Hintergründe der Tat blieben zunächst unklar.

Der Eindringling hatte die AKP-Mitarbeiter aus den Büroräumen im siebten Stock des Gebäudes gejagt, ein Fenster eingeschlagen, eine türkische Fahne mit aufgedrucktem Schwert hinausgehängt und Parolen gerufen, über deren Inhalt nicht berichtet wurde. Die Kombination der Symbole auf der Fahne sei in dieser Form noch nie von politischen Gruppen benutzt worden, schrieb das türkische Online-Nachrichtenportal „Internethaber.com“. Das Schwert sei das Symbol des Alevitentums, „eine seltsame Zusammenstellung mit dem türkischen Halbmond“. Die Aleviten sind eine religiöse, eher der Sozialdemokratie zugewandte Gemeinschaft mit Wurzeln im schiitischen Islam, die in der Türkei rund 15 Prozent der Bevölkerung stellen.

In Zeitungen und im Internet wurden erneut Kommentare laut, wonach die gewaltsamen Zwischenfälle auf die türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni zielen und Verwirrung und Chaos im Land stiften sollen. Linksextremisten hatten am Dienstag während eines landesweiten Stromausfalls im zentralen Istanbuler Justizgebäude im Innenstadtbezirk Sisli einen Staatsanwalt als Geisel genommen. Zu der Tat bekannte sich die verbotene marxistisch-leninistische Untergrundgruppe „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C). Beide Täter wurden bei der Befreiungsaktion am Abend von der Polizei erschossen, der Staatsanwalt kam nach widersprüchlichen Medienberichten entweder im Gerichtsgebäude ums Leben oder erlag später im Krankenhaus seinen Verletzungen.

Todesschütze noch nicht ermittelt

Am Mittwoch nahm die türkische Polizei bei Razzien in den türkischen Großstädten Antalya, Izmir und Eskisehir 29 Personen fest, die Mitglieder der DHKP-C sein sollen, meldete die halbstaatliche türkische Nachrichtenagentur „Anadolu“. Den Verdächtigen werde vorgeworfen, ähnliche Aktionen wie die Geiselnahme geplant zu haben. Der Anwalt der Verdächtigen wies die Vorwürfe zurück. In der Nacht zum Mittwoch gab es gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei in zwei Istanbuler Stadtbezirken zwischen DHKP-C-Sympathisanten und der Polizei, die Wasserwerfer und Tränengas einsetzte.

Der getötete Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz ermittelte in dem politisch bedeutenden Fall Berkin Elvan. Der 15-jährige Jugendliche war bei den Gezi-Protesten im Sommer 2013 von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen worden, als er laut Angaben seiner Eltern Brot vom Bäcker holen wollte. Er starb nach neun Monaten im Koma und wurde zu einem Symbol der Protestbewegung.

Die Geiselnehmer forderten von jenen Polizisten, die für Elvans Tod verantwortlich seien, ein Geständnis „live im Fernsehen“ und die Einstellung aller Verfahren gegen Menschen, die wegen der Teilnahme an Demonstrationen für den getöteten Jugendlichen gerichtlich verfolgt würden. Bisher wurde der Todesschütze nicht ermittelt.

Am Mittwoch wurde vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul-Caglayan eine Trauerzeremonie für den getöteten Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz abgehalten, an der viele Justizmitarbeiter und auch Mitglieder der Regierung teilnahmen. Der türkische Justizminister Kenan Ipek sagte bei der Zeremonie, wer den Frieden im Land brechen wolle, werde den Preis dafür bezahlen.

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