Der
Tagesspiegel, 01.04.2015
http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-der-toedlichen-geiselnahme-tuerkei-der-hass-zwischen-den-politischen-lagern-waechst/11588728.html
Nach der tödlichen
Geiselnahme
Türkei: Der
Hass zwischen den politischen Lagern wächst
von Susanne Güsten
Nach der tödlichen
Geiselnahme von Istanbul wächst der Hass zwischen beiden politischen Lagern
weiter. Die türkische Gesellschaft ist inzwischen tief gespalten .
Der türkische Vizepremier Bülent
Arinc ist schon lange im Geschäft und politischen Gegenwind durchaus gewohnt.
Doch selbst Arinc zeigte sich geschockt vom Ausmaß der Spaltung der türkischen
Gesellschaft in bedingungslose Anhänger und erbitterte Gegner von Präsident
Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP. Früher habe er bei
den Gegnern der AKP im Land noch Respekt für die Regierung gespürt, sagte
Arinc: „Heute bemerke ich Blicke voller Hass.“
Dieser Hass zwischen beiden Lagern könnte nach der tödlichen Geiselnahme
von Istanbul weiter wachsen. Kurz vor der Parlamentswahl am 7. Juni verschärft
sich in der Türkei das gesellschaftliche Klima.
Zwei Mitglieder der
linksextremen Gruppe DHKP-C hatten am Dienstag in Istanbul den Staatsanwalt
Mehmet Selim Kiraz als Geisel genommen. Sie wollten damit gegen die Verschleppung
von Ermittlungen gegen Polizisten protestieren, die bei den Gezi-Protesten
im Jahr 2013 den Teenager Berkin Elvan mit einer Tränengaskartusche tödlich
am Kopf trafen. Bis heute gibt es keine Anklage in der Sache, geschweige
denn einen Prozess. Elvans Schicksal ist für Regierungsgegner zu einem
Symbol für ungestrafte Polizeigewalt im Land geworden; dagegen sieht Erdogan
in dem Jungen einen Terroristen.
Die Polizei erschoss am Dienstagabend die beiden Geiselnehmer. Staatsanwalt
Kiraz wurde ebenfalls schwer verletzt und starb kurz darauf. Doch statt
den Terroranschlag gemeinsam als verdammungswürdiges Verbrechen zu verurteilen,
bezichtigten sich Regierungsanhänger und -gegner gegenseitig, von dem
Gewaltexzess einer kleinen linksextremen Gruppe profitieren zu wollen.
Am Mittwoch stürmten zwei Bewaffnete ein Büro der Regierungspartei AKP
in Istanbul, die Polizei nahm beide Angreifer fest. Die Hintergründe blieben
zunächst unklar.
Gleichzeitig gingen die Behörden gegen mutmaßliche Sympathisanten der
Geiselnehmer vom Dienstag vor. In Istanbul nahm die Polizei fast 40 Studenten
fest, die an einer Gedenkfeier für einen der getöteten Geiselnehmer teilnahmen.
In anderen Städten kamen weitere 30 mutmaßliche Linksextremisten in Haft.
Erdogan fordert "nationale
Haltung" der Opposition
Erdogan attackierte regierungskritische
Medien, die den Tätern „die Hand gereicht“ hätten. Die Behörden schlossen
einige Zeitungen, die ein Foto der Geisel Kiraz mit der Pistole eines
Geiselnehmers am Kopf verbreitet hatten, von der Beisetzung des getöteten
Staatsanwalts aus. Der regierungskritische Journalist Bülent Kenes kommentierte,
selbst bei einer Trauerfeier spalte die Regierung das Land in Anhänger
und Gegner.
Der Politikwissenschaftler Sedat Laciner schrieb in einem Beitrag für
das Online-Portal „Internethaber“, auf der einen Seite betrachteten die
Mitglieder der Gezi-Protestbewegung die Regierung mit großem Misstrauen.
Auf der anderen Seite sei die Führung in Ankara und deren Anhänger überzeugt,
dass die Regierung der ständig der Gefahr ausgesetzt zu sein, durch den
Druck der Straße entmachtet zu werden. Zu diesen mutmaßlichen Umsturzversuchen
zählten sie auch die Gezi-Unruhen. Um vor der Parlamentswahl nicht alles
noch schlimmer werden zu lassen, müsse die Politik alles tun, um die Spannungen
zwischen den Lagern abzubauen, forderte der Experte.
Die erdogantreue Zeitung „Yeni Akit“ titelte: „Die Gezi-Anhänger haben
den Staatsanwalt getötet.“ Der säkularistische Oppositionspolitiker Aykut
Erdogdu dagegen vermutet finstere Machenschaften des Regierungslagers
hinter der tödlichen Geiselnahme. Es werde versucht, die Türkei in eine
Katastrophe zu stürzen, so wie es im Irak und in Syrien geschehen sei,
erklärte Erdogdu auf Twitter.
Erdogan, der es bisher in jedem Wahlkampf verstanden hat, die eigenen
Anhänger durch die Verteufelung der Gegner zu motivieren, zeigt ebenfalls
keinerlei Neigung, die Rolle des Spalters abzulegen. Er griff die Opposition
wegen deren Kritik an mangelnden Sicherheitsvorkehrungen im Gerichtsgebäude
von Istanbul scharf an. Die Parteien sollten endlich eine „nationale Haltung“
an den Tag legen, forderte Erdogan.
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