Die Presse, 02.04.2015

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4699423/Spaltung-der-Turkei-wird-nach-Geiselnahme-tiefer?_vl_backlink=/home/politik/aussenpolitik/index.do

Spaltung der Türkei wird nach Geiselnahme tiefer

Regierungsvertreter und Gegner bezichtigen einander, von dem Gewaltexzess einer kleinen linksextremen Gruppierung profitieren zu wollen. Anhänger der getöteten Geiselnehmer wurden festgenommen.

Istanbul. Der türkische Vizepremier, Bülent Arınç, ist lange im Geschäft– und politischen Gegenwind durchaus gewohnt. Doch selbst Arınç zeigte sich geschockt vom Ausmaß der Spaltung der türkischen Gesellschaft in bedingungslose Anhänger und erbitterte Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und dessen Regierungspartei AKP. Früher habe er bei den Gegnern der AKP im Land Respekt für die Regierung gespürt, sagt er. „Heute bemerke ich Blicke voller Hass.“ Dieser Hass zwischen beiden Lagern könnte nach der tödlichen Geiselnahme von Istanbul noch weiter wachsen: Kurz vor der Parlamentswahl am 7. Juni steht der Türkei eine neue Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas bevor.

Zwei Mitglieder der linksextremen Gruppe DHKP-C hatten am Dienstag in Istanbul den Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz als Geisel genommen. Sie wollten damit gegen die Verschleppung von Ermittlungen gegen Polizisten protestieren, die bei den Gezi-Protesten im Jahr 2013 den Teenager Berkin Elvan mit einer Tränengaskartusche tödlich am Kopf trafen. Bis heute gibt es keine Anklage in der Sache, geschweige denn einen Prozess. Elvans Schicksal ist für Regierungsgegner zu einem Symbol für ungestrafte Polizeigewalt im Land geworden; dagegen sieht Erdoğan in dem Jungen einen Terroristen. Als die Polizei die Geiselnahme am Dienstagabend beendete, erschoss sie die beiden Täter. Auch Kiraz wurde verletzt und starb.

Doch statt den Terroranschlag gemeinsam als verdammungswürdiges Verbrechen zu verurteilen, bezichtigten sich Regierungsanhänger und -gegner am Mittwoch gegenseitig, von dem Gewaltexzess einer kleinen linksextremen Gruppe profitieren zu wollen. Gleichzeitig gehen die Behörden gegen mutmaßliche Sympathisanten der Geiselnehmer vor. So nahm die Polizei in Istanbul fast 40 Studenten fest, die an einer Gedenkfeier für einen der getöteten Geiselnehmer teilnahmen. In anderen Städten kamen weitere 30 mutmaßliche Linksextremisten in Polizeihaft. Erdoğan attackierte regierungskritische Medien, die den Tätern „die Hand gereicht“ hätten. Die Behörden schlossen einige Zeitungen, die ein Foto der Geisel Kiraz mit der Pistole eines Geiselnehmers am Kopf verbreitet hatten, von der Beisetzung des getöteten Staatsanwalts aus. Der regierungskritische Journalist Bülent Keneş kommentierte, selbst bei einer Trauerfeier spalte die Regierung das Land in Anhänger und Gegner.


Vergleich mit Irak und Syrien

Der Politikwissenschaftler Sedat Laciner schrieb in einem Beitrag für das Onlineportal Internethaber, die Mitglieder der Gezi-Protestbewegung betrachteten die Regierung auf der einen Seite mit großem Misstrauen. Auf der anderen Seite seien die Führung in Ankara und deren Anhänger davon überzeugt, dass die Regierung der ständigen Gefahr ausgesetzt sei, durch den Druck der Straße entmachtet zu werden. Zu diesen mutmaßlichen Umsturzversuchen zählten sie auch die Gezi-Unruhen. Die Erdoğan-treue Zeitung „Yeni Akit“ titelte am Mittwoch: „Die Gezi-Anhänger haben den Staatsanwalt getötet“. Der säkularistische Oppositionspolitiker Aykut Erdoğdu dagegen vermutet hinter der tödlichen Geiselnahme finstere Machenschaften des Regierungslagers. Es werde versucht, die Türkei in eine Katastrophe zu stürzen, so wie es im Irak und in Syrien geschehen sei, erklärte Erdoğdu auf Twitter.

Erdoğan, der es bisher in jedem Wahlkampf verstanden hat, die eigenen Anhänger durch die Verteufelung der Gegner zu motivieren, zeigt ebenfalls keinerlei Neigung, die Rolle des Spalters abzulegen und die des Versöhners anzunehmen. Er griff die Opposition wegen deren Kritik an mangelnden Sicherheitsvorkehrungen im Gerichtsgebäude von Istanbul scharf an. Die Parteien sollten endlich eine „nationale Haltung“ an den Tag legen, forderte er. (güs)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2015)