junge Welt, 02.04.2015

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Strategie der Spannung

Geiselnehmer und Staatsanwalt bei Polizeiaktion im Istanbuler Justizpalast getötet. Erdoğan lobt »erfolgreiche Operation«. Dutzende Festnahmen

Von Nick Brauns

Die Geiselnahme, bei der zwei Mitglieder einer linksradikalen Organisation in Istanbul einen Staatsanwalt in ihre Gewalt gebracht hatten, endete am Dienstag abend blutig. Polizisten stürmten den Istanbuler Justizpalast und erschossen beide Geiselnehmer. Auch der Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz erlag kurz darauf in einem Krankenhaus seinen schweren Schussverletzungen. Wer ihn getötet hat, ist bislang unbekannt.

Zwei mit Pistolen bewaffnete Mitglieder der Revolutionären Volksbefreiungsfront-Partei (DHKP-C) hatten den Staatsanwalt am Dienstag mittag in seinem Büro im sechsten Stock des Çağlayan-Justizpalastes in ihre Gewalt gebracht. Sie sollen beim Betreten des Gebäudes Anwaltsroben getragen haben. Über die Facebook-Seite Halkın Sesi TV (Stimme des Volkes) wurden Bilder der vermummten Geiselnehmer mit dem Staatsanwalt verbreitet. Staatsanwalt Kiraz ermittelte im Fall des 14jährigen Berkin Elvan, der während der Gezi-Park-Proteste gegen die autoritäre AKP-Regierung im Juni 2013 von einer Gasgranate der Polizei getroffen worden war und nach rund zehn Monaten im Koma verstarb. Entgegen der Behauptung des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Berkin sei ein »Terrorist«, hatte sich der Junge nicht an den Protesten beteiligt, sondern war unterwegs, um für seine Familie Brot zu kaufen. Nach Berkins Tod gingen landesweit Hunderttausende Menschen auf die Straße.

Die Geiselnehmer im Istanbuler Justizpalast forderten nun ein öffentliches Geständnis der für Berkins Tod verantwortlichen Polizisten im Fernsehen und ihre anschließende Verurteilung durch ein »Volksgericht«. Zudem sollten alle Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten wegen der Proteste nach Berkins Tod eingestellt werden. Andernfalls drohten die DHKP-C-Mitglieder mit der Erschießung des Staatsanwaltes. Elvans Vater appellierte dagegen an die Geiselnehmer, dem Juristen nichts anzutun. »Alles was ich verlange, ist Gerechtigkeit und ein faires Verfahren«, wurde Sami Elvan vom sozialdemokratischen Abgeordneten Hüseyin Aygün zitiert. Die Entscheidung zur Stürmung des Gerichts sei nach sechsstündigen ergebnislosen Verhandlungen gefallen, da Schüsse aus dem Büro zu hören waren, erklärte der Istanbuler Polizeichef Selami Altınok.

Trotz des blutigen Ausgangs lobte Erdoğan die »erfolgreiche Operation«. Solche Äußerungen nähren Befürchtungen, wonach seine von inneren Linienkämpfen geschwächte islamisch-konservative »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juni zur Sicherung ihrer weiteren Alleinherrschaft eine »Strategie der Spannung« fahren könnte. Geheimdienstoperationen – die sich auch linksradikaler oder faschistischer Untergrundgruppen bedienen – könnten zur Verunsicherung der Bevölkerung dienen, um so Stimmung für die von Erdoğan geforderte Umwandlung der Republik in eine Präsidialdiktatur zu machen. Bereits vergangene Woche hatte die AKP ein Heimatschutzgesetz erlassen, mit dem die Türkei nach Meinung der Opposition zum Polizeistaat wird.

Anlässlich der Geiselnahme fragte der Vorsitzende der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, über Twitter, ob ein landesweiter Stromausfall am Dienstag – bei dem die Regierung einen Cyberangriff als Ursache nicht ausschließt – dazu gedient habe, die Waffen in das Gerichtsgebäude zu schmuggeln. »Wenn der Nationale Nachrichtendienst dieses Landes sich mit Angelegenheiten beschäftigt, die nicht zu seinen Aufgaben gehören, dann werden die Büros der Staatsanwälte der Republik mit Fanfarenklängen aufgesprengt«, orakelte Kılıçdaroğlu über eine Verwicklung des Geheimdienstes in die Vorfälle.

Erst vor einer Woche war bei einem Anschlag einer bislang unbekannten »Volksschutzeinheit« auf die Redaktion einer radikal-islamischen Zeitschrift in Istanbul ein Redakteur getötet worden. Und einen Tag nach dem Geiseldrama stürmten am Mittwoch zwei bewaffnete Männer die AKP-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Kartal. Sie hängten eine türkische Fahne mit Zülfikar, dem von Angehörigen der diskriminierten alevitischen Religionsgemeinschaft genutzten Schwertsymbol des heiligen Ali – aus dem Fenster. Die Polizei nahm die Männer fest. Unterdessen wurden im südtürkischen Antalya 22 mutmaßliche DHKP-C-Mitglieder verhaftet. An der Istanbuler Universität nahm die Polizei zudem bei einem Gedenkmarsch für die am Vortag im Justizpalast erschossenen DHKP-C-Mitglieder Şafak Yayla and Bahtiyar Doğruyol 36 Studierende fest