freitag.de, 11.04.2015

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Ruşen Çakır

Schlag ins eigene Kontor

Türkei Die Dissonanzen zwischen dem Präsidenten und der AKP-Regierung werden kurz vor der Wahl immer heftiger

Diese Kontroversen haben das Zeug zur Staatskrise, doch resultieren sie nicht allein aus der Kurden-Frage. Abdülkadir Selvi, Kolumnist der Tageszeitung Yeni Şafak, lenkt die Aufmerksamkeit zur Recht auf polemische Äußerungen von Tayyip Erdoğan zu Wirtschaftspolitik und Zentralbank. Auch habe der Präsident mit Widerstreben auf die Kandidatur von Hakan Fidan, Ex-Direktor des Nachrichtendienstes MIT, für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zur Parlamentswahl am 7. Juni reagiert. Selvi, der als AKP-Insider gilt, beendet seinen Kommentar mit dem aufschlussreichen Satz: „Die AKP hatte mal einen Zauber. Sie wurde von den Massen als Symbol der Stabilität hofiert. Dieser Zauber schmilzt langsam dahin.“ Der Autor Ali Bayramoğlu schreibt im gleichen Blatt: „Das Subjekt bleibt der Staatspräsident. Wie er sich in die Regierungsgeschäfte einmischt und gegen die eigene Partei polemisiert, ist eine Bestätigung dafür, dass die jetzige politische Krise nicht der Regierungspartei schlechthin zu verdanken ist, sondern auf eine, Individualisierung der Macht‘ zurückgeht.“

Unter normalen Umständen hätte man erwartet, dass Erdoğan nach seiner Wahl zum Präsidenten Abdullah Gül als Nachfolger aufbaut. Doch gab Erdoğan nicht diesem profilierten Politiker, sondern Ahmet Davutoğlu den Vorzug, dem es als Premier an Kontur fehlt. Wenn nun der Konflikt zwischen Staatsoberhaupt und Regierung derart gnadenlos ausgetragen wird, zeigt sich darin wohl auch Enttäuschung Erdoğans über Davutoğlu.

Im Moment stoppen die Turbulenzen den „Lösungsprozess“, wie die Verständigung mit den Kurden genannt wird. Erdoğan kritisiert jeden Schritt der Regierung harsch und öffentlich. Er bedenkt die linke, prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) sowie die Kurdische Politische Bewegung (KSH) mit herben Worten. Man könnte denken, Davutoğlu hätte den „Lösungsprozess“ in die Wege geleitet, ohne Erdoğan in Kenntnis zu setzen. Eigentlicher Wegbereiter war jedoch der Präsident selbst. Koordinator einer politischen Lösung ist nach wie vor Vizepremier Yalçın Akdoğan, der bis vor kurzem zum inneren Zirkel um Erdoğan gehörte. Die „Beobachterkommission“ – zusammengesetzt aus 15 unabhängigen Intellektuellen und gedacht als Begleiter erster Verhandlungen –, gegen die sich Erdoğan jetzt sträubt, war von Anfang an so vorgesehen. Die Nominierten standen auf einer „Liste der Weisen“, der Erdoğan ausdrücklich zugestimmt hatte.

Öcalans Newroz-Brief

Was treibt ihn an, all das in Frage zu stellen? Es gibt darauf mehr als eine Antwort. Die entscheidende lautet: Seit sich 2011 erstmals Regierungs- und Kurden-Politiker trafen, profitiert die kurdische Seite. Abdullah Öcalan gewann als Verhandlungspartner an Legitimation, die HDP könnte laut Umfragen beim Parlamentsvotum in zwei Monaten die Zehn-Prozent-Hürde nehmen, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) gehört unter unterschiedlichen Namen zu den Hauptakteuren im syrischen und irakischen Bürgerkrieg. Sie kämpft gegen den Islamischen Staat (IS) und hat weltweit an Ansehen gewonnen.

Was Erdoğan zudem stört, das ist die Position der PKK, zwar die Waffen niederlegen zu wollen, aber zunächst auf neue Zugeständnisse in Ankara zu drängen. Als sich der Präsident – verärgert darüber – gegen die „Beobachterkommission“ aussprach, verzichtete Öcalan in seinem Gefängnisbrief zum kurdischen Neujahrsfest (Newroz) auf einen festen Termin für einen PKK-Kongress, dessen einziger Tagesordnungspunkt der Verzicht auf bewaffnete Gewalt sein sollte.

Erdoğan dürfte ebenso beunruhigen, dass die HDP wie auch die Rechts-außen-Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) der AKP bei den anstehenden Wahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit Stimmen abnehmen. Die Aussichten der HDP hängen nicht zuletzt mit dem Zuspruch von Wählern zusammen, die eine Abneigung gegen Erdoğan hegen und keine Hoffnung mehr in die Republikanische Volkspartei (CHP) setzen. Ungeachtet dessen werden Kurden die eigentliche Kraft sein, die der HDP zu einem eventuellen Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde verhilft. Es können all jene dafür sorgen, die Erstwähler sind, im Ausland leben und bei vorherigen Wahlen der AKP ihre Stimme gaben, aber deren Hang zur Korruption verabscheuen.

Für eine Wanderung kurdischer Wähler von der AKP zur HDP sind folgende Gründe maßgebend: Zunächst lässt sich eine kurdische Identität in der Türkei weder länger bestreiten noch unterdrücken. Außerdem wurde die kurdische Bewegung unter der Führung von Öcalan zu einem regionalen Phänomen. Ihre Milizionäre haben Kobane gegen den IS verteidigt, auch wenn sich Tayyip Erdoğan in einer für die Kämpfer kritischen Lage weigerte, ihnen beizustehen. Die danach vollzogene Kehrtwende des Präsidenten, die sich in den Worten niederschlug: „Es gibt kein Kurden-Problem, es gibt Probleme bei meinen kurdischen Brüdern“, muss weiter gelten, will Erdoğan nicht an Glaubwürdigkeit verlieren.

Der Präsident will Verlusten bei den Wahlen zuvorkommen, indem er ultranationale Türken für die AKP gewinnt. So kommt es zu verbalen Attacken gegen eine Verständigung mit den Kurden, besonders gegen die PKK, und einem taktischen Dissens mit der Regierung von Premier Davutoğlu, die wiederum um kurdische Nationalisten mit Sympathien für die AKP buhlt, indem sie am „Lösungsprozess“ festhält.
Nur ein Ablenkungsmanöver

In Regierungskreisen heißt es seit Wochen, Dissonanzen innerhalb der Kurdischen Politischen Bewegung (KSH) seien die Ursache für Brüche beim „Lösungsprozess“. Ministerpräsident Davutoğlu bemüht sich, die Haltung Öcalans als konstruktiv, die der operativen PKK-Führung aber als hinderlich darzustellen – nichts weiter als ein Manöver, um von den Eskapaden Erdoğans abzulenken, der seiner Regierung zusetzt, um sich einen sakrosankten Status in der AKP zu sichern. Und sei es um den Preis, einen Ausgleich mit den Kurden zu sabotieren.

Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass eine gewaltfreie Lösung der Kurden-Frage derzeit mehr vom Fortgang der Staatskrise abhängt als von allem anderen. Die Frage lautet, wird ein Mittelweg zwischen dem Präsidenten und der Regierung gefunden – oder nicht? Wird der „Lösungsprozess“ intensiviert – oder nicht? Schwelen die Zerwürfnisse im Regierungslager über Tempo und Ziel dieses Prozesses weiter – oder nicht? Nach den aggressiven Statements, die von Tayyip Erdoğan zu hören waren, sieht es jedenfalls nicht danach aus, dass Abdullah Öcalan die PKK noch vor der Wahl am 7. Juni zu einem Kongress aufruft, der den endgültigen Verzicht auf bewaffneten Widerstand absegnet.

Ein Szenario für die Zeit danach könnte sein, dass die HDP ins Parlament einzieht und zur kurdischen Stimme in dieser Kammer wird, während die AKP zwar Mandate verliert, aber die Mehrheit behält. Dann dürften Begriffe wie „Revision“, „Neugestaltung“ und „Wiederaufbau“, wie sie in Öcalans Newroz-Brief zum „Lösungsprozess“ auftauchen, an Zugkraft gewinnen.

Ruşen Çakır lebt als Autor in Istanbul und beschäftigt sich häufig mit dem kurdisch-türkischen Konflikt

Übersetzung aus dem Türkischen: Gülcin Wilhelm