junge Welt, 14.04.2015

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Geplante Provokation

Türkische Armee wollte Soldaten als Wahlkampfmanöver opfern

Von Nick Brauns

Die Arbeiterpartei Kurdistans PKK will trotz der jüngsten Provokationen der türkischen Armee gegenüber Guerillastellungen am seit zwei Jahren geltenden Waffenstillstand festhalten. Angriffe würden aber durch Selbstverteidigung beantwortet, heißt es in einer Erklärung des Hautquartiers der Volksverteidigungskräfte (HPG).

Infolge einer Armeeoperation auf dem Tendürek-Berg in der Provinz Ağrı waren am Samstag nach HPG-Angaben fünf Soldaten, ein Guerillakämpfer sowie ein Zivilist getötet worden. Dass nicht mehr Soldaten der 15köpfigen Kommandoeinheit starben, war einer Gruppe von Dorfbewohnern zu verdanken, die sich als »lebende Schutzschilde« zwischen die Fronten begeben hatten. Die AKP-Regierung habe im Rahmen des Wahlkampfes geplant, am folgenden Tag die Leichen von 15 Soldaten in verschiedene Städte des Landes zu schicken, erklärte der örtliche Vorsitzende der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), Kamuran Yüksek, am Sonntag bei der Beerdigung des durch die Militärs erschossenen Teilnehmer der »lebenden Schutzschilde« Cemzi Budak. »Die türkische Armee hat sie in den Tod geschickt und im Stich gelassen«, sagte Yüksek.

Auch der Vorsitzende der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, erklärte auf einer Wahlkundgebung in Istanbul, es habe in Ağrı eine geplante Täuschungsoperation gegeben. So hätten keine Krankenwagen für die Verwundeten bereitgestanden. »Sie haben 15 Soldaten im Kampfgebiet in Ağrı zurückgelassen, acht davon verwundet. Die Soldaten sollten dort sterben, damit die Stimmen der AKP bei der Wahl ansteigen«, sagte Demirtaş unter Verweis auf Zeugenaussagen und Filmaufnahmen. Doch HDP- und DBP-Mitglieder hätten die Verwundeten gerettet.

Dass es sich um eine von Geheimdienstchef Hakan Fidan gemeinsam mit dem Innenminister Efkan Âlâ vorbereitete Provokation auf Befehl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gehandelt hatte, behauptete am Sonntag auch ein Whistleblower. Der Unbekannte mit dem Pseudonym Fuad Avni hatte schon zahlreiche Polizei- und Geheimdienstoperationen vorab über das Internet bekanntgegeben. Dahinter scheint eine Person aus dem engsten Führungszirkel der AKP zu stecken, die offenbar der inzwischen mit Erdoğan verfeindeten Fethullah-Gülen-Gemeinde angehört. Der Präsident sei äußerst besorgt, dass die HDP die Zehnprozenthürde bei den Wahlen überwindet könnte. Er greife daher zu solchen Mitteln, um die Unterstützung für die links-kurdische Partei zu minimieren, schrieb Avni.

Nach vorangegangenem Artilleriebeschuss kam es auch im türkisch-iranischen Grenzgebiet bei Şemdinli zu einem Gefecht mit Einheiten der HPG. Auf die Frage von Dorfbewohnern, warum es trotz Friedensprozess Militäroperationen gäbe, antwortete laut der Nachrichtenagentur Firat ein Offizier der türkischen Armee: »Es gibt keinen Frieden, wir werden von jetzt an kämpfen.«