junge Welt, 14.04.2015

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»Die Straßen gehören uns«

Schafft ein, zwei viele Konzerte: In Istanbul ließen sich Grup Yorum und ihre Fans ihr »Volkskonzert« nicht von der Polizei verbieten

Von Sükriye Akar

Am Sonntag gab es in Istanbul wieder einmal ein martialisches Polizeiaufgebot. Viele Wasserwerfer, abgesperrte Straßen und Hubschrauber in der Luft. Diesmal ging es um den Basar im Stadtteil Bakirköy. Dort war ein Konzert der populären linken Band Grup Yorum verboten worden.

Es hätte das fünfte »Volkskonzert« der Band werden sollen, vergangenes Jahr waren 1,1 Millionen Besucher gekommen, bei freiem Eintritt. Dieses Jahr sollten es noch mehr werden, doch die AKP-Regierung hatte es kurz vorher verboten, mit der Begründung, das Konzert »könnte das Volk in Aufruhr versetzen«. Man könnte meinen, das Verbot sei ein Probelauf für den kommenden 1. Mai. Auch für diesen Tag wurde die Kundgebung auf dem Taksim-Platz, in mittlerweile gewohnter Manier, verboten. Grup Yorum rief ihre Anhänger auf, trotzdem zum Konzert kommen. Es sollte um 15 Uhr stattfinden, um 13 Uhr stoppte die Polizei Busse und Autos der Fans und jagte sie teilweise durch die Gegend, es kam zu Straßenschlachten.

Gegen das Konzertverbot hatte Grup Yorum ein völlig neues Konzept entwickelt: Dezentralisierung. Die Bandmitglieder verteilten sich zu zweit oder zu dritt in ganz Istanbul. Sie trugen ihre Lieder trotz Verbots vor, wenn auch ohne Soundsystem und Mikrofon. Die Botschaft an die Fans lautete: »Es sind eure Balkons, Busse, Arbeitsplätze, Straßen und Viertel – überall, wo das Volk ist, ist ein Konzertgelände von Grup Yorum«.

Die vielen kleinen Straßenkonzerte wurden sehr gut aufgenommen. Die Fans sangen und tanzten ihre Lieblingslieder. Inan Altin von Grup Yorum sagte: »Heute haben sich Yorum und ihre Anhänger auf zig Plätze verteilt. Wir haben gezeigt, wie man Verbote umgehen kann. Es hieß, unser Konzert würde für Aufruhr sorgen. Wir haben gesehen, wer für Aufruhr gesorgt hat« – der türkische Staat, der die Repression zusehends militarisiert.
jW-Ostseetörn

Bandmitglied Eren Olcay sagte in einem Interview: »Man möchte den Eindruck erwecken, unsere Konzerte wären eine Straftat. In letzter Sekunde wurde unser Konzert, was seit vier Jahren stattfand und Hunderttausende zusammenbrachte, willkürlich verboten. Doch wir haben gezeigt, dass man die Lieder von Grup Yorum nicht verbieten kann. Alle Plätze sind Konzertorte, die Straßen gehören uns.«

Wegen dem Konzertverbot hatte Grup Yorum das Verwaltungsgericht angerufen, ohne Ergebnis. Ob die Entscheidung der Behörden rechtmäßig war oder nicht, soll erst später geprüft werden.

Das brutale Vorgehen der Polizei mit Tränengas, Wasserwerfern, Lärmbomben und Plastikmunition führte zu zahlreichen Verletzungen. In Istanbul kam es zu 54 Festnahmen, betroffen davon auch acht Minderjährige. Ins Krankenhaus von Bakirköy wurde eine Frau eingeliefert, der die Polizei die Beine gebrochen hatte, als sie versuchte, in den Basar zu gelangen, und ein Mann, dem die Hüfte und ein Arm kaputtgeschlagen wurden. Die meisten Festgenommenen waren ins Polizeipräsidium gebracht worden, nach Angaben des Ermittlungsausschusses sind mittlerweile 29 Personen wieder entlassen worden.

Auch die Solistinnen von Grup Yorum Selma Altin und Sultan Gökcek, die auf dem Taksim-Platz Lieder sangen und dazu Flöte spielten, wurden verhaftet. Sie hatten ein Transparent dabei, auf dem stand: »Die Plätze können dem Volk nicht verboten werden«. Auch sie sind wieder auf freiem Fuß.