junge Welt, 17.04.2015

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Leugnen als Staatsräson

Türkische Staatsführung behauptet weiter, den Genozid an den Armeniern habe es nicht gegeben. Zum 100. Jahrestag sieht sie sich als Opfer einer internationalen Verschwörung

Von Nick Brauns

Die türkische Staatsführung sieht sich als Opfer einer vom Papst bis zu den Oppositionsparteien reichenden Verschwörung. Grund ist der 100. Jahrestag des Beginns der Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich am 24. April. Denn der Druck auf die Türkei wächst, diese von der damaligen jungtürkischen Führung angeordneten Verbrechen, bei denen weit über eine Million Angehörige des christlichen Volkes zu Tode kamen, als Genozid anzuerkennen.

Den Anfang machte am vergangenen Wochenende Papst Franziskus. Auf einer Messe bezeichnete er die Greueltaten als »ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts«. Damit ging er zwar über die deutschen Genozide an den Herero und Nama im heutigen Namibia hinweg, erzielte aber in Ankara Wirkung. Die erboste türkische Regierung bestellte den Botschafter des Vatikans ein. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan tadelte das Oberhaupt von Millionen Katholiken wie einen Schuljungen. »Ich möchte ihn dafür rügen und davor warnen, Unsinn zu reden«, wetterte er gegen den Papst. Vor einem Jahr hatte Erdoğan als erster führender türkischer Politiker auf Druck der USA den Nachfahren der armenischen Opfer sein Beileid ausgesprochen. Einen Völkermord bestritt Erdoğan allerdings. Das Leid der Armenier ordnete er in die allgemeinen Kriegswirren ein. Um vom weltweiten Genozidgedenken abzulenken, ließ Erdoğan gar eine Veranstaltung zur Erinnerung an die Dardanellenschlacht auf den 24. April legen, obwohl die bereits am 19. Februar 1915 begonnen hatte. Der eingeladene armenische Präsident Sersch Sargsjan sagte entrüstet ab.

Am Mittwoch verabschiedete das Europäische Parlament, das bereits 1987 von einem Genozid gesprochen hatte, mit großer Mehrheit eine Resolution, in der die Türkei dazu »ermutigt« wird, den Völkermord anzuerkennen. Die Türkei solle »das Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern zum Anlass nehmen, ihre Bemühungen, einschließlich der Gewährung des Zugangs zu den Archiven, fortzusetzen« und »sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen«. Dies könne »den Weg für eine aufrichtige Aussöhnung zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk« bereiten. Erdoğan hatte bereits vor der Abstimmung im EU-Parlament verkündet, eine solche Entscheidung werde in der Türkei »in einem Ohr reingehen und aus dem anderen wieder raus«. Das türkische Außenministerium beschuldigte anschließend das EU-Parlament, die »antitürkischen Klischees der armenischen Propaganda« zu wiederholen.

»Derzeit formiert sich eine Front des Bösen gegen uns«, wollte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu am Mittwoch gar erkannt haben. Neben dem Papst benannte Davutoğlu die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die links-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) als Teile dieser »Front«. Beide Parteien seien »ausländische Projekte« zur Schwächung der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) vor den Parlamentswahlen im Juni. Zwar weigert sich die über einen starken nationalistischen Flügel verfügende CHP, von einem Völkermord zu sprechen. Doch demonstrativ kürte die Partei eine bekannte armenische Rechtsanwältin zu ihrer Spitzenkandidatin in Istanbul. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu bezeichnete allerdings am Donnerstag die Äußerungen des Papstes und des Europaparlaments als »inakzeptabel« und ungeeignet für die Aussöhnung der beiden Völker. 1915 habe als »große Tragödie« sowohl Armenier als auch Muslime traumatisiert, setzte der Politiker Opfer und Täter gleich. Die HDP, auf deren Liste mehrere Armenier und Assyrer kandidieren, tritt dagegen offen für die Anerkennung der historischen Tatsachen ein. Führende kurdische HDP-Politiker wie der Oberbürgermeister der Stadt Mardin, Ahmet Türk, hatten sich bereits in der Vergangenheit für die Beteiligung kurdischer Stämme an der Massakrierung der Armenier und Assyrer entschuldigt.

Das Leugnen des Genozids aber gehört zur Staatsräson der 1923 gegründeten Republik, da sich viele für den Genozid Verantwortliche der von Mustafa Kemal geführten Befreiungsbewegung gegen die Aufteilung der Türkei unter den Siegermächten des Weltkrieges angeschlossen hatten und in der Republik in höchste Staatsämter aufstiegen. Auch das Startkapital der türkischen Kapitalistenklasse stammte aus dem Raub armenischen Eigentums.