zeit.de, 21.04.2015

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Iraks Kurdengebiet

Festung auf Öl gebaut

Der IS wütet in großen Teilen des Irak, doch Erbil, Hauptstadt des kurdischen Teils, boomt. Die Stadt im Autonomiegebiet erinnert eher an Dubai als an ein Kriegsgebiet.

von Muriel Reichl, Erbil

Es dauerte nicht lange, bis sich der "Islamische Staat" (IS) der Tat auf Twitter brüstete. Ihren Kämpfern aus der Region Kirkuk sei es gelungen, "viele zu verletzen und zu töten". Wenige Stunden nach der Explosion einer Autobombe am vergangenen Freitagnachmittag direkt vor dem US-Konsulat zeigten sich viele Kurden aus Erbil allerdings betont unaufgeregt. "Naja, es sind ja nur drei Leute gestorben", sagte ein junger Mann, "nur die Angreifer sind tot, keine Kurden". Das stimmt nicht ganz. Laut offiziellen Angaben sind der Attentäter und zwei kurdische Zivilisten aus der Türkei gestorben, Dutzende wurden zudem verletzt.

Woher kommt diese demonstrative Gelassenheit? Verglichen mit anderen Gebieten im Irak lebt es sich in Erbil ruhig. Anschläge der IS-Terrorgruppe sind in der Kurdenmetropole selten. In Bagdad starben am selben Tag mindestens 27 Menschen bei zwei Bombenanschlägen. In Erbil war es der erste vergleichbare Angriff seit November. Dabei liegt die Stadt nur anderthalb Autostunden von Mossul entfernt, das vom IS beherrscht wird.

Und noch etwas lässt auf Normalität schließen: Zwar sind Hunderttausende, darunter viele Christen, seit vergangenem Sommer aus anderen Regionen wie Tikrit oder Samarra in die autonome Region Kurdistan geflohen. Doch in Erbil sind im Gegensatz zu vielen Städten in der Türkei kaum Flüchtlinge zu sehen. Sie wurden außerhalb der Stadt untergebracht.

Und so ist der Alltag unspektakulär, kaum etwas erinnert an den IS. Ja, der ganze zerbröckelnde Irak, inmitten dessen die Autonome Region Kurdistan liegt, scheint unendlich weit weg. In Erbil glitzert das Öl sichtbar in Form von vierspurigen Highways, massenhaft neuen Gebäuden und glänzenden Shoppingmalls, in denen reiche Kurden, Araber oder US-Amerikaner von Personal aus Bangladesch und den Philippinen bedient werden.

Bewacht wird der Reichtum und die Sicherheit vom kurdischen Militär, den Peschmerga. In Camouflage-Uniform stehen sie an den vielen Checkpoints, winken teure Autos durch, und ab und zu untersuchen sie eines. Sie sind die Superstars der Stadt. Auf der Spendendose an der Kasse des Supermarkts Carrefour steht: "Wir alle sind Peschmerga." Die Identifizierung mit dem staatlichen Gebilde ist groß, an vielen Autos klebt das lächelnde Gesicht des Präsidenten der Autonomieregion, Mesûd Barzanî. Auf der Rückscheibe eines aufgepimpten Autos steht in grün-rot-gelben Buchstaben: "Born 2 B Peshmerga" ("Geboren, um Peschmerga zu sein").

Einer der letzten sicheren Orte im Irak

Das Vertrauen der Bevölkerung ins Militär scheint unermesslich. Lezgîn etwa, ein einflussreicher Arzt und Mediengründer aus Erbil, hat die Stadt nicht verlassen, als die IS-Schergen im vergangenen Sommer in den großen Nachbarstädten Mossul und Kirkuk wüteten. Er blieb mit seiner ganzen Familie. "Wir wollten nicht weg. Wir hatten nur Angst", sagt seine Frau Nala.

Die Angst ist dem Ehepaar nicht fremd. Die Familie kehrte erst vor 20 Jahren zurück in den Irak. Lezgîn und Nala sind im Iran aufgewachsen. Wie fast die Hälfte der irakischen Kurden, so schätzen sie. Wie in Syrien und in der Türkei waren die Kurden im Irak jahrzehntelang unterdrückt und zum Teil vertrieben worden. Saddam Husseins Soldaten jagten viele wie Vieh aus ihren Dörfern und massakrierten sie mit Giftgas. "Viele von denen, die nicht in den Iran gingen und überlebt haben, wurden in arabische Städte umgesiedelt", erzählt Nalas Mutter. Sie ist Anfang 60. Ihre Generation durfte in der Schule kein Kurdisch sprechen, sie lernte auf Arabisch. Ihre Kinder wuchsen im Iran auf, die ganze Familie spricht perfekt Farsi, viele haben an iranischen Unis studiert. Auch ihre Enkel verstehen alles.

Die jüngste, Zîlan, kommt in wenigen Monaten in die Schule. Sie wird ausschließlich auf Sorani unterrichtet, dem meistgesprochenen kurdischen Dialekt im Irak. Vielleicht wird sie Arabisch als Fremdsprache wählen, so wie ihre drei älteren Schwestern. Die können Arabisch lesen, aber nicht sprechen. Zu Hause und auf der Straße sprechen sie ihren Dialekt Kurmanci. Sie lernen viel, denn alle wollen sie studieren. In Erbil gibt es gute Schulen.

In ihrem Vorort können die Mädchen nachts allein aus dem Haus gehen, um Essen oder Kleidung zu kaufen. Ihre Eltern überlassen ihnen die Entscheidung, ob sie sich den typischen Schleier über den Hinterkopf legen wollen oder nicht, nur die Älteste hat sich dazu entschlossen.

Die Stadt ist einer der letzten sicheren Orte im Irak, in denen die Wirtschaft boomt. Nicht nur Kurden leben hier, viele arabische, türkische und auch deutsche Unternehmen lassen sich nieder. Kurdistan lockt mit günstigen Investitionsbedingungen und billigen Lebenskosten. Lebensmittel sind steuerfrei. Die Regierung stellt der Bevölkerung kostenlos Mehl, Zucker, Butter und Reis zur Verfügung. Einmal im Jahr gibt es billiges Gas, damit die Familien im Winter heizen können. Die Barzani-Regierung kann es sich leisten: Die Region verfügt über das neuntgrößte Ölvorkommen der Welt. Der Handel mit der Türkei floriert. Die wenigen Oppositionellen im Quasi-Staat kritisieren allerdings, dass die großen Parteien KDP und PUK in allen größeren Geschäften ihre Anteile abgriffen. Die Korruption gilt als hoch.


Doch die meisten Bewohner Erbils schwärmen von ihrem Präsidenten. Sie schreiben ihm, seinem Clan und den Peschmerga ihre Unabhängigkeit und ihren Wohlstand zu. Das Öl und die Unterstützung der USA kommen selten zur Sprache. Auch über den IS reden sie nur widerwillig und wenn doch, dann herablassend, als sei die Gefahr marginal. Bomben wie die am Freitag stören ihr Bild vom terrorfreien Mini-Dubai.

Sie sind stolz darauf, dass alle Kurdisch sprechen und belächeln die Kurden in der Türkei, die in vielen Gebieten assimiliert worden seien, ihre Sprache und Kultur verloren hätten. Auch für die Jesiden aus Sindschar, die im Hochsommer von IS-Terroristen auf einen Berg vertrieben wurden, wo sie ohne Wasser und Nahrung ausharrten, und von denen etliche massakriert wurden, finden sie wenig warme Worte. Die Jesiden hätten ihre kurdische Identität verraten und die Peschmerga verleumdet.

Hinter diesen Vorwürfen steckt ein alter politischer Zwist: Die Jesiden leben als hermetisch isolierte Gemeinschaft und wählen Barzani nicht. Dann kam noch dazu, dass die Guerillas von der türkisch-kurdischen PKK sich die heldenhafte Befreiung der Jesiden zuschrieben. Die Peschmerga-Anhänger und die der PKK lassen kaum eine Gelegenheit aus, den anderen lächerlich zu machen und internationale Anerkennung auf sich zu ziehen. Die Kämpfer selbst geben sich untereinander pragmatisch kollegial. So kämpften sowohl im irakischen Sindschar als auch im syrischen Kobani sowohl Peschmerga als auch PKK-Milizen gegen den IS.

Die größte Abneigung empfinden die Kurden aus Erbil – oder Hewlêr, wie sie ihre kleine Trutzburg nennen – gegen die benachbarten Araber. Das hat zum einen Züge einer gewöhnlichen Gartenzaunfeindschaft, die jeder kennt, der einen Badenser mal für einen Schwaben hielt. Viel Hass schöpft sich aber auch aus den vergangenen Monaten, als die sunnitische Bevölkerung die IS-Milizen resigniert gewähren ließen, frustriert von der Benachteiligung durch die schiitische Regierung des ehemaligen Präsidenten Nuri al-Maliki.

Konsum gegen das Gefühl der Bedrohung und gegen schlechte Erinnerungen

Das Misstrauen ist zudem ein Relikt aus den Jahrzehnten der Unterdrückung durch das Saddam-Regime. Mit aktueller Brisanz: Die alten Feinde, Saddams Generäle, sind im Irak mittlerweile ein wichtiger Strang im IS-Geflecht. Irak und IS werden auf dieser Ebene als deckungsgleich erfahren. Das Wort Irak wird so gut wie möglich vermieden oder bestenfalls mit dem Zusatz "ehemalig" versehen. Auf jedem Werbeschild, jeder Tankstelle, jedem Accessoire steht "Kurdistan". Bei aller Abneigung gegenüber dem Irak: Die kurdische Autonomie profitiert momentan vom instabilen irakischen Staat. Denn je unzuverlässiger Bagdad Öl exportiert, desto zuverlässiger weichen die Abnehmer, namentlich Ankara, auf Erbil aus.

Nach jahrzehntelanger Demütigung und Angst will niemand auf die Mahnungen hören, die leise von innen und außen warnen: Ölquellen sind nicht unerschöpflich. Sie könnten auf Dauer nicht als einzige Basis für eine funktionierende Marktwirschaft dienen. Doch die Warnungen verhallen. Zu sehr lockt der Konsum, gelabelt mit der zurückgewonnenen Identität: "Made in Kurdistan".

Der Stolz darauf ist so groß, dass der regierungsnahe Sender Rudaw wöchentlich eine Sendung mit diesem Titel ausstrahlt. Porträtiert werden kurdische Unternehmen, wohlwollende Aufnahmen von kurdischen Landwirtschaftsbetrieben, Lebensmittelproduktionen oder eben Ölraffinierien. Barzanis Medien polieren den ökonomischen und militärischen Glanz.

Die Zeiten scheinen gut. Die Regierung pflegt gute Beziehungen zu den USA, sie erhält internationale Unterstützung und es gelang ihr, die IS-Kämpfer bis jetzt aus ihrem Gebiet fernzuhalten. Solange es so bleibt, werden die Einwohner Erbils wohl nicht aufhören, die aktuelle Bedrohung und die Erinnerungen an früher wegzukonsumieren.