welt.de, 26.04.2015

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Das türkische Trauma

Claus Christian Malzahn

Die Beamten des Außenministeriums in Ankara und seine Diplomaten haben im Moment ziemlich viel zu tun. Sie sollen jene Lebenslüge retten, auf der die moderne Türkei errichtet worden ist. Sie lautet: Einen Völkermord an den Armeniern hat es nie gegeben. Das widerspricht zwar jeder historisch-wissenschaftlichen Erkenntnis. Aber in der Türkei ist der nationale Mythos im Moment noch stärker als Aufklärung und Vernunft.

Deshalb wird in einer beinahe beispiellosen historischen Abwehrschlacht jeder attackiert, der es wagt, den Genozid vor hundert Jahren beim Namen zu nennen. Da wird der Papst unflätig attackiert, das EU-Parlament angegriffen, da werden der amerikanische, französische und der russische Präsident beschimpft. Botschafter werden einbestellt oder zurückbeordert und Fußtruppen auf staatlich dirigierte Demonstrationen geschickt. Selbst vor persönlichen Drohungen schreckt die türkische Politik nicht zurück. Auch der deutsche Bundespräsident hatte in einer Rede im Berliner Dom nach einem Gedenkgottesdienst vom Völkermord gesprochen. Das türkische Volk werde Gauck das "nicht vergessen und nicht vergeben", hieß es aus Ankara. Was bitte soll das heißen? Eine Diplomatie, die sich derart von Feinden umstellt sieht und solche aggressiven Töne anschlägt, ist im Begriff, sich abzuschaffen. Man fragt sich, was als Nächstes kommt. Eine Kriegserklärung?

Wochenlang wurde in Deutschland darüber diskutiert, welche Haltung man in dieser Frage einnehmen sollte. Die Debatte war aller Ehren wert. Am Ende hat Wahrhaftigkeit über politische Taktik gesiegt. In Ankara interpretiert man das als Niederlage. Das ist bedauerlich, aber manche Auseinandersetzungen darf man auch Nato-Partnern nicht ersparen. Wenn die Türkei sich nicht stärker ihrer schwierigen Geschichte stellt, wird sie die Probleme in Gegenwart und Zukunft nicht lösen können. Das gilt übrigens für jede Nation. Je stärker die Türkei diese Erkenntnis beherzigt, umso schneller wird sie ihren inneren Frieden finden. Davon aber ist sie leider weit entfernt.