Neue Zürcher Zeitung, 29.04.2015

http://www.nzz.ch/feuilleton/kino/im-griff-der-zensur-1.18531628

Die Filmszene der Türkei

Im Griff der Zensur

Marian Brehmer

Infolge eines Zensur-Eklats kamen dem Filmfestival Istanbul in diesem Jahr die Filme abhanden. Ein Anlass, um auf die Situation von Filmemachern und Kulturschaffenden in der Türkei zu schauen.

AA Es ist eine der letzten Vorstellungen auf dem diesjährigen Filmfestival Istanbul. Ayat Najafi, der seine Dokumentation über den Kampf einer Iranerin gegen das Gesangsverbot für Frauen in Iran vorstellt, will dem türkischen Publikum noch etwas auf den Weg mitgeben: «Kämpft gegen die Zensur an, bevor sie zu mächtig wird.» Was Zensur bedeute, wisse er als Iraner aus eigener Erfahrung.

Ein Schleier von Tragik hängt über den verbliebenen Vorstellungen, seitdem das grösste Filmfestival der Türkei von einem Eklat überschattet wurde: Am 12. April unterband das türkische Kulturministerium die Vorführung von «Bakur» («Norden»). Der Dokumentarfilm von Cayan Demirel und Ertugrul Mavioglu porträtiert das Leben von kurdischen Guerillakämpfern in den PKK-Camps der Südosttürkei, eine eher seltene Perspektive im türkischen Film. Das Thema schien dem Ministerium in Ankara zu heikel: Als Grund für das Verbot gab man an, der Film sei nicht ordnungsgemäss registriert gewesen. Da die Behörden jedoch bei anderen Filmen auf dem Festival ein Auge zudrückten, wittert die Gemeinde der türkischen Filmemacher einen Fall von Zensur.

Ein Festival ohne Filme

In Ankara stützt man sich auf ein Gesetz, das seit 2004 in Kraft ist. Es verlangt von türkischen Filmproduktionen, dass sie vor Vorstellungen auf Filmfestivals zunächst eine spezielle Lizenz einholen. Der Erwerb dieser Lizenzen ist für Produzenten aber nicht nur kostspielig, sondern auch zeitaufwendig, zumal viele Filme erst kurz vor Festivalbeginn fertiggestellt werden.

Prompt zogen aus Protest 23 Regisseure ihre Filme aus dem Festivalprogramm zurück. Sowohl die nationale als auch die internationale Festival-Jury traten geschlossen zurück. Letztlich platzte auch die Preisverleihung, in den Zeitungen war von einem «Festival ohne Filme» zu lesen. Mehr als einhundert Filmschaffende setzten einen Brief an das Ministerium auf, in dem von «Unterdrückung und Zensur» die Rede war. Zu den Unterzeichnern des Briefes gehörte auch das Aushängeschild der türkischen Filmszene, der letztjährige Gewinner der Goldenen Palme von Cannes, Nuri Bilge Ceylan («Winter Sleep»). Die Regisseure von «Bakur» forderten sogar die Absage des ganzen Festivals. Mavioglu kritisierte im «Guardian» den Umgang der Politiker mit dem Kurden-Thema: «Einerseits sprechen sie von einem Friedensprozess, andererseits sind sie nicht imstande, Meinungen, die von ihrer eigenen abweichen, zu akzeptieren.» Der türkische Kulturminister Ömer Celik liess seinerseits auf Twitter verlauten, dass der Film Terrorismus unterstütze.

Unterstützung nur für Regimetreue

Das Vorführverbot in Istanbul ist nicht das erste Beispiel von Einmischung der AKP-Kulturbehörden in ein internationales Filmfestival. Im vergangenen Jahr gaben die Organisatoren des Portakal-Filmfestivals in Antalya dem Druck des Ministeriums nach und pfiffen den Film «Love Will Change the Earth» zurück, eine Dokumentation über die Gezi-Proteste. Auch in Antalya stiegen damals ein Dutzend Regisseure aus dem Wettbewerb aus.

Die gegenwärtigen Entwicklungen in der Filmszene verstärken unter türkischen Kulturschaffenden den Eindruck, dass ihnen unter der AKP-Regierung immer weniger Freiraum bleibt. Ihre Reaktion darauf ist nicht selten die Selbstzensur, ob aus Angst vor Verboten oder unter finanziellem Druck. Viele Regisseure fühlen sich mit einer kulturfeindlichen Regierung konfrontiert, die selektiv nur solche Projekte unterstützt, die ihr eigenes Welt- und Geschichtsbild bestätigen. Dieses Vorgehen lässt sich am Umgang mit kurdischen Filmemachern festmachen. Zwar hat die AKP-Regierung nach Jahrzehnten der Gängelung das Verhältnis der Türkei zur kurdischen Sprache normalisiert. Substanzielle staatliche Unterstützung für kurdische Regisseure kommt jedoch nur einer Handvoll regierungsfreundlicher Filmemacher zugute. Ein Beispiel dafür ist der kurdische Sänger und Regisseur Mahsun Kirmizigül, dessen Film «Ich habe die Sonne gesehen» 2010 offizieller Kandidat der Türkei bei den Oscars war. Mahsun Kirmizigül sang im letzten Jahr auch Wahlwerbesongs für die AKP ein.

Die Zensur trifft aber nicht nur das Kino. Musikfestivals werden unter dem Vorwand, man wolle Alkoholausschank verhindern, abgeblasen. An den Staatstheatern werden willkürlich Gagen gestrichen oder Vorstellungen zum Platzen gebracht. Zudem fehlt es der Türkei an koordinierter Kulturpolitik. So eröffnete letztes Jahr im Istanbuler Stadtteil Bakirköy das hochmoderne Leyla-Gencer-Konzerthaus, doch bis heute gibt es schlichtweg nicht genügend Ensembles, um den Spielplan zu füllen.

Christian Lüffe, Leiter des Goethe-Instituts Istanbul, berichtet von vermehrten Finanzierungsanfragen türkischer Künstler bei den ausländischen Kulturinstituten. Auch Einrichtungen wie das Goethe-Institut stossen mit ihren Veranstaltungen oft an die Grenzen des Erwünschten. 2014 stand in Istanbul eine Ibsen-Inszenierung Thomas Ostermeiers von der Schaubühne Berlin auf der Kippe, da sie den berühmten Fusstritt des damaligen Erdogan-Beraters von Soma auf die Bühne bringen wollte. «Gleichzeitig bekommen wir bei unserer Arbeit eine gewisse Reserve der politischen Führung gegenüber westlichen Kulturprogrammen zu spüren», sagt Lüffe.

Bedrohte Kulturstätten

Zudem plagen viele Kulturstätten zurzeit akute Geldsorgen. In der alternativen Kulturszene Istanbuls hat sich deshalb Untergangsstimmung eingestellt. Ein Symbol des Niedergangs ist das riesige Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz, einst Dreh- und Angelpunkt der darstellenden Künste, das seit seiner Schliessung im Jahr 2008 dem Verfall preisgegeben ist. Im März nannte die Zeitung «Today's Zaman» Istanbul einen «Friedhof der Theater» und führte eine ganze Liste von Spielstätten an, die in den letzten Jahren aufgeben mussten. Unter den jüngst geschlossenen Istanbuler Kinos ist auch das traditionsreiche Emek-Theater, lange ein wichtiges Symbol der türkischen Filmszene. Das 1924 gegründete Kino fiel vor zwei Jahren, ungeachtet massiver Proteste vieler Filmemacher, einem Shopping-Komplex zum Opfer – ein Fallbeispiel für die Auswirkungen der neoliberalen AKP-Baupolitik auf die Kulturlandschaft am Bosporus.

Letzte Woche ist nun das Filmfestival Ankara angelaufen. Den Film «Bakur», der eigentlich auch in Ankara vorgesehen war, hat man vorsorglich aus dem Programm genommen.